Riikka Tauriainen: Was sagt uns der Oktopus?

sic! Elephanthouse, 24.11.2020 – Wenn der Oktopus sprechen könnte, wir könnten ihn nicht verstehen. Oder doch? In «Intimacy of strangers» stellt Riikka Tauriainen unsere Beziehung zu anderen Körpern, Spezies und Ökosystemen in Frage.

Der Mensch verschwindet im Anthropozän, wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand. Wir werden Körper aus Wasser, welche die Falte der Welle bewohnen. «I am a singular, dynamic whorl dissolving in a complex, fluid circulation», schreibt Astrida Neimanis, auf die sich die Künstlerin Riikka Tauriainen in ihrem Werkkomplex «Hydrocommons» bezieht.

Gemeinsam mit den Kuratorinnen, die neu unter dem Namen «sic! Elephanthouse» den Ausstellungsraum an der Neustadtstrasse bespielen, kreiert Tauriainen ein immersives Environment, in dem Video, Sound, Objekte und Text synästhetisch zusammenfliessen.

Fluid Entanglements

Wir blicken hinab auf eine Brandung. Eine unruhige See, turbulente Strömungen und wogende Wellen, die brechen und an den Küstenfelsen aufschlagen. Dann tauchen wir unter Wasser, wo eine seltsame Ruhe herrscht. Ein Oktopus erscheint, Tentakel recken sich in alle Richtungen, die Umgebung ertastend. Mit weichen fliessenden Bewegungen kommt er mal nach vorne, mal zieht er sich schnell wieder zurück, neugierig – spielend?

Riika Tauriainen

Es sind Aufnahmen, die während Tauriainens Residenz in Genua entstanden sind. Begleitet werden diese durch einen elektronischen Soundscape, den Emre Sarigöl alias feyz beim Schauen des Films als One-Take produzierte.

Der Oktopus befindet sich in einem Aquarium, wo ihn eine Glaswand von der Filmerin trennt. Eine Grenze, die mimetisch verdoppelt wird durch eine transparente wellenförmige PET-Fläche. Die Projektion wird gebrochen und reflektiert, so dass an der Wand fliessende Strukturen sichtbar werden. Wie von der Wasseroberfläche gebrochenes Sonnenlicht auf dem sandigen Meeresgrund.

Riikka Tauriainen

Weitere Reliefs schweben im Raum, konfiguriert wie ein erstarrter Wasserfall oder ein Wellenhimmel vom Meeresgrund her betrachtet.

Die Plastikplatten legte Tauriainen zuvor auf bedeckte Körper von Wrestling-Dummies. Mit Hilfe von Hitze verflüssigte sie das Material und konnte so die anthropo- aber auch hydromorphe Reliefs formen.

Mit ihrer viskosen Porosität erinnern sie an semi-permeable Membrane, die jeden Organismus und jede Zelle umhüllen. Wie unser Körper, der zu knapp zwei Dritteln aus Wasser besteht und ein Milieu bildet für das Mikrobiom, in dem mehr Bakterien und andere fremde Wesen wohnen, als menschliche Zellen.

Riikka Tauriainen

Als Rolltext werden gleichzeitig Sätze aus «Hydrofeminism: Or, On Becoming a Body of Water» (2012) von Astrida Neimanis projiziert. Anstelle der Ontologie unabhängiger Individuen setzt sie die Hydrologie fliessender Übergänge. Statt der Logik des Entweder-oder die Hydrologik des Sowohl-als-auch. Alles fliesst. Nichts bleibt gleich. Und doch verbunden.

Dinge lösen sich auf, lagern sich ab und werden transportiert. Wasser als Lösung, Medium und Archiv. Nicht nur chemischer Prozesse, sondern auch evolutionärer, ja kultureller. Unsere angeblich externalisierten Ausscheidungen, Abfälle und Gifte wie Plastik, Pestizide, Medikamente, Drogen, Öle, radioaktive Materialien suchen uns wieder heim. Und sei es durch einen Schluck aus einem Glas Wasser. Das Feedback im Regelkreislauf ist der Rückfluss im Flussdiagramm.

Tentakuläres Denken

Tauriainens Video erinnert auch an die neue Netflix-Doku «My Octopus Teacher» (2020), welche die (Liebes-)Geschichte eines erschöpften Menschen erzählt, der eine persönliche, geradezu intime Beziehung mit einem scheinbar so fremden Wesen aufbaut und dadurch einen neuen Sinn des Lebens entdeckt.

Tier-Werden bedeutet in diesem Fall ein Körper-aus-Wasser-Werden. Das Wasser als Milieu bewohnen. Spurenlesend die subtilsten Differenzen wahrnehmen lernen. Und ein «tentakuläres Denken» entwickeln, in dem das Gehirn nicht nur im Kopf ist, sondern sich bis in alle Extremitäten erstreckt.

Auch «Intimacy of strangers» kann als Beispiel des «Storytelling for Earthly Survival» gelten – so der Titel des Films aus dem Jahr 2016 über die Biologin und Philosophin Donna Haraway, für die der Oktopus ebenfalls paradigmatisch ist. Sie prägte zudem den Ausdruck «SF» für Science Fiction, Speculative Fabulation, Speculative Feminism, Science Fact. Zur Überwindung des Anthropozentrismus, als dessen höchster Ausdruck und Hybris wohl der Begriff des «Anthropozäns» gelten darf. Hin zu einer posthumanistischen «More-than-human-World».

Flüssige Utopie

Genährt von einem diskursiv dichten Theorie-Rhizom spriessen gegenwärtig viele spekulative Gegengeschichten in ökologischer Absicht und mit utopischem Potential wie Pilze aus dem Boden. So aktuell etwa «Potential Worlds» im Migros Museum für Gegenwartskunst, «Protozone» Zürcher Shedhalle oder «Star Magnolia» im Theater Neumarkt.

Gegen die Ästhetisierung und Romantisierung «der Natur» und gegen den Harmonie-Kitsch der Wholesome-Ideologie markiert Tauriainens hydrologischer Holismus die Grenzen, Brüche und Konfliktlinien.

Doch auch sie imaginiert Möglichkeiten eines nicht-imperialen Zusammenlebens mit unterschiedlich vulnerablen und resilienten Körpern, Spezies und Ökosystemen.

«Die Utopie kommt erst, wenn wir sie machen.»

Riikka Tauriainen

Damit einher geht die Dekonstruktion des souveränen Subjekts und des neoliberalen Individuums. Und auch in der Kunst, so Tauriainen, müsse die Ästhetik des einsamen Genies zugunsten einer Ästhetik der sym-poetischen Ko-Existenz liquidiert werden.

Dazu bedarf es auch der experimentellen Zwischenräume. Und diese wiederum bedürfen, so die Neo-Kuratorinnen des «sic! Elephanthouse» Anne-Sophie Mlamali, Sabrina Negroni und Lena Pfäffli, der Wertschätzung, der Freiheit und nicht zuletzt der Mittel. Es sei zwar Zufall, dass «Intimacy of strangers» ihre erste Ausstellung geworden ist, aber sie passe sehr zu ihrer Denk- und Arbeitsweise. «Die Utopie kommt erst, wenn wir sie machen», sagt Riikka Tauriainen. Hoffen wir also auf mehr liquide Hydrocommons.

Intimacy of strangers – Riikka Tauriainen
Bis 5. Dezember 2020
sic! Elephanthouse

Feminotopias
21. November 2020, 14 Uhr

Listening Session Ambra
5. Dezember 2020, 17 Uhr