Replik: früher > heute

Auf Yung Hurns Luzerner Showcase vom 15. September reagierte null41.ch kulturpessimistisch, und auch der Willisauer Bote mag Trap nicht. Doch kann man das Hurn-Phänomen auch ganz anders sehen? Ohne erhobenen Zeigefinger? Eine Replik. 

Ach, die Jugend. Wiedermal zieht sie sich scheisse an. Hört Musik, die Kopfschütteln auslöst, und sorgt damit für Empörung bei all jenen, die sich nicht mehr zu ihr zählen wollen. So gelesen bei den Kolleginnen Chantal Bossard (Willisauer Bote) und Katharina Thalmann (null41.ch), welche den Hype um das Genre «Trap» nicht nachvollziehen können. «Trap nervt» heisst es da, und «your life sucks» heisst es dort, in Bezug auf Fans des Rappers Yung Hurn. Die beiden Autorinnen nehmen damit Teil an einer immerwährenden, bürgerlichen Empörung über Jugendkultur, die weiss Gott nicht neu ist. Auch heute war früher eben alles besser.

Neben der unerklärlichen Kleiderwahl der Fans – weisse Socken? (Bossard) – empört vor allem die Musik. Denn die ist einfach nicht gut. Im Gegensatz zu Jimi Hendrix. Der ist nämlich gut. Oder wie es Thalmann in einer Review seines Showcase im Luzerner Casineum ausdrückt: «Hurn ist nicht Hendrix, und das ist schade. Der Kulturhunger wird heute mit Produkten von viel geringerer Qualität gestillt als noch vor ein paar Jahrzehnten.» Rapper Yung Hurn ist nicht Gitarrengott Jimi Hendrix. Äpfel und Birnen, anyone? Ausserdem bietet sich ein Spiel an: Man tausche «Hurn» mit «Sid Vicious», und erhält ein 40-jähriges Zitat eines 68ers, der sich über Punkmusik aufregt.

Doch nicht nur die Musik ist stumpf, auch die Person dahinter gebe wenig her. Die Fans seien sich einig, dass «gerade Hurns Daneben-Sein ihn so cool macht. ‹Dä könnt nüüt!›, ‹Är esch eifach so z'vell!›, ‹So en Assi!› – Qualifikationsmerkmale für Coolness.» Nun gut. Ein Bad-Boy-Image ist nichts Neues. Wobei sich Yung Hurn immerhin rechtlich (noch) nichts vorwerfen lassen muss. Ganz im Gegensatz zu – genau, Jimi Hendrix. Ein kurzer Blick auf Jimi Hendrix’ Wikipedia zeigt: Diese Ikone der 68er hat seine Freundin geschlagen. Yung Hurn dagegen fällt vor allem durch Drogenexzesse und unmögliches Verhalten in Interviews auf. Beides uralte Phänomene in der Popkultur (s. Kurt Cobain, Klaus Kinski, David Bowie). Trotzdem scheint Yung Hurn eine besorgniserregende Figur zu sein – popkulturelle Geschichte wird dabei ausgeblendet.

Dabei lief und läuft der Prozess immer gleich und ist einfach zu durchschauen: Die eigene Jugend wird durchgelebt und durchgefeiert. Danach bilden die eigenen Erfahrungen den Massstab des Guten für die nachfolgenden Generationen. Diese lassen sich mit einigen Jährchen Altersabstand schon als «tonlos» bezeichnen, da die gehörte Musik einfache Texte aufweist (Bossard). Vielleicht werden auch keine «richtigen» Instrumente mehr gespielt, vielleicht gibt es einen dreisten Umgang mit Stimmveränderungs-Software. Kurz: Es ist nicht mehr, was es einmal war – und damit einfach schlechter. Denn früher, ja früher, da war alles besser.

So wurde die Welt auch 2010/2011 gesehen, als eine gewisse «Odd Future Wolf Gang Kill Them All (OFWGKTA)» die Musikszene mit Releases bombardierte. Die aktuelle Omnipräsenz des Trap-Sounds lässt den Hype um das Kollektiv zwar klein aussehen. Am Beispiel von OFWGKTA lässt sich trotzdem zeigen, welche Mechanismen während des Aufkommens neuer Jugendkultur ablaufen. Wie heute Yung Hurn, verstiessen auch OFWGKTA gegen «guten Geschmack». Der damals 16-jährige Rapper Earl Sweatshirt schilderte Vergewaltigung und Mord auf seinem ersten Mixtape. Sein drei Jahre älterer Kollege Tyler, the Creator drohte auf seiner Debütsingle, Bruno Mars’ Speiseröhre aufzuschlitzen. Rap-affine Teenager mit Tumblr-Account liebten es. Damals wie heute bildete sich ein erkennbarer Stil unter den Fans heraus. Man zog die Socken hoch, trug 5-Panel-Caps und die Marke Supreme. Es folgten ausverkaufte Shows, eigene Festivals und Kleiderlinien. Aber auch ein Einreiseverbot für Tyler, the Creator im Vereinigten Königreich («posing a threat to public order», 2015). Dennoch: Nichts konnte die Karrieren der Mitglieder des Kollektivs stoppen. Im Gegenteil. Ihre Musik ist heute bedeutsamer denn je. Mittlerweile macht Tyler, the Creator Neo-Soul inspirierte Konzeptalben. OFWGKTA-Gründungsmitglied Frank Ocean ist dank nahbarer Texte und innovativer Arrangements ein R&B-Superstar und Kritikerliebling. Wie die Speerspitzen der vergangenen Jugendkulturen, gehören die beiden Kalifornier heute zum (pop-)musikalischen Establishment. Dem Gegenwind zu Anfangszeiten zum Trotz.

Junge Leute feiern etwas ab, ältere verstehen nicht und empören sich: Es ist nicht lange her, da haben sich die gleichen gesellschaftlichen Prozesse abgespielt wie heute. Doch scheinbar ist das kollektive Gedächtnis jenes eines Goldfisches. Insofern wird auch die «heutige Jugend» wohl keine Ausnahme darstellen. Sie werden im Alter – wie in der Jugend – die Fehler der Eltern nochmals begehen.

Die Jugend ist nun mal vergänglich. Punks von damals haben vielleicht noch eine «The Clash»-Platte und ein «No-Future»-Tattoo– doch wählen heute CVP und fahren einen VW Passat. Die Trap-Kids von heute werden ihren Weg in die bürgerliche Gesellschaft ebenfalls finden. Die Geschichte lehrt es. Gelernt wird dennoch kaum: Jugendkultur ruft Generation für Generation Empörung hervor. Wie die zitierten Textbeispiele zeigen, liegen zwischen den wahrgenommenen Generationen auch gar nicht viele Jahre. Wer älter ist, hat der Jugend etwas zu sagen. Doch es ist stets dieselbe Leier, die sich die Älteren einige Jahre zuvor selbst anhören mussten: Früher, ja früher…

Disclaimer: Der Autor zählt sich zu den Fans des Genres «Trap», und ist ein Kenner erster Stunde des Werkes von Yung Hurn. Am genannten Showcase im Casineum konnte der Autor nicht zugegen sein. Er hat sich jedoch am Konzert am Openair Frauenfeld 2017 mit der Live-Show von Yung Hurn und seinen Fans bekannt gemacht.