Räume machen

Saskya Germann und Patric Gehrig haben im alten Hallenbad Utenberg einen Ort geschaffen, der Besucher:innen ihr Verhältnis zu Räumen ausloten lässt. «Hûs» ist eine Einladung einzutauchen – und ein Versprechen, nicht als Gleiche rauszukommen.

«Hûs» von Germann//Gehrig im alten Hallenbad Utenberg

 

Wir sitzen in der Küche, auf dem Herd steht eine Bialetti, sie blubbert leise vor sich hin. «Der Artikel darf nicht zu viel verraten!», beschwört mich Saskya Germann. «Wenn die Leute wissen, was sie erwartet, dann wird das Erlebnis nicht das gleiche sein», legt Patric Gehrig nach. Von der ersten Idee aus gerechnet hat das Paar fünf Jahre an dem Projekt «Hûs» gearbeitet, seit September vergangenen Jahres dann handfest und vor Ort. Zusammen mit vielen helfenden Händen haben sie das alte Hallenbad der Kinder- und Jugendsiedlung Utenberg transformiert. Jetzt steht es da: «Hûs». Was hat der Raum bloss angerichtet bei den beiden?

Nervös hat er sie gemacht, jetzt, in den letzten Tagen vor der Eröffnung. Germann und Gehrig sprühen vor Vorfreude, wollen endlich zeigen, was sie hier oben getrieben haben, sie platzen fast vor Neugier: Was werden die Räume, die sie geschaffen haben, mit Menschen machen? Sie sorgen sich, ob die Leute überhaupt kommen zu dem nicht ganz zentral gelegenen Ort auf dem Utenberg. Und da ist auch viel Angst, nach so langer Brüterei ihr Ding einfach schlüpfen zu lassen. Die Kontrolle zu verlieren darüber, wer was wem erzählt, wie es wahrgenommen wird, was es auslöst bei den Besucher:innen. «Das Schlimmste wäre jetzt ein Text, der alles beschreibt, verrät, vorwegnimmt», sagt Germann.

Hyperrealität und Surrealismus
Als ob das möglich wäre. Als ob das, was ich erlebt habe in dem Labyrinth aus Räumen, die zwischen Hyperrealität und totalem Surrealismus oszillieren, sich lösen liesse von meinem Bewusstsein, meinen Erfahrungen, meinem Blick. Allein arbeite ich mich zunächst durch die Räume, in meinem Tempo, in meinen Gedanken. Später treffe ich auf Menschen, die ich nicht immer einordnen kann: Sind das nun andere Besucher:innen, die hier ebenfalls Probe laufen, oder ist die Frau, die ich in ein Gespräch verwickle, vielleicht doch eine der Performer:innen, die den Raum «anreichern», wie es Germann nennt?

 

Der Psychopath und Massenmörder soll, so erzählen Germann und Gehrig, auf die Weltausstellung von 1893 hin in Chicago ein Hotel erbaut haben, das nur einem Zweck diente: ihm die besten Voraussetzungen zu schaffen, um unbemerkt bestialische Morde zu verüben.

 

Die Räume lösen unzählige, immer neue Gefühle aus, manchmal kaum fassbare, dann wieder schneidend klare. Immer wieder packen mich Erinnerungen. Im Estrich, in dem ich komplett unerwartet lande, fallen mir die Sommertage mit meiner Mutter beim Wäscheaufhängen ein, der Duft des von der Sonne aufgeheizten Gebälks – niemand sonst kann ihn kennen. Und natürlich denke ich an das Stanley Hotel in dem langen, engen Gang, doch streifen meine Gedanken nur kurz den Horrorstreifen «Shining», der in dem Hotel hoch oben in den Rocky Mountains gefilmt wurde. Sie fliegen schnell zu jenen Sommertagen, die ich da verbringen durfte, zu meiner zweiten Mutter, mit der ich da war. Was ich im «Hûs» erlebe, das erlebe da nur ich.

Vorbild Serienkiller
Alles begann mit einem Spiel, so viel verraten Germann und Gehrig. Wie in einem Computerspiel, durch das ich mich bewege, fühle ich mich zuweilen; erkunde Türen, Fenster, Schränke, Löcher, versuche Sinn zuzuschreiben, zu verstehen, die richtige Lösung zu finden für Probleme, die ich mir selber zurechtlegen muss. Doch am Anfang stand das Kartenspiel «Anno Domini», dessen Ziel es ist, unterschiedliche Ereignisse in der korrekten Reihenfolge auf einem Zeitstrahl zu platzieren. Da stolperten Germann und Gehrig erstmals über Henry Howard Holmes. Der Psychopath und Massenmörder soll, so erzählen Germann und Gehrig, auf die Weltausstellung von 1893 hin in Chicago ein Hotel erbaut haben, das nur einem Zweck diente: ihm die besten Voraussetzungen zu schaffen, um unbemerkt bestialische Morde zu verüben.

In blutrünstigen Details spekuliert ein Spiegel-Artikel über Holmes und sein Hotel, Wikipedia zeichnet ein eher nüchternes Bild und verweist darauf, dass viele Legenden rund um Holmes und seine Taten erst im 20. Jahrhundert entstanden. Was das Künstler:innenpaar fasziniert an der Geschichte, ist ohnehin nicht das Morden, sondern dieses Haus, das er gebaut haben soll: Nur er selbst verstand all die doppelten Böden, Geheimgänge und Rutschen, fensterlosen Verliese und Folterkammern, aus denen es bestanden haben soll. Immer wieder soll Holmes die Handwerker ausgewechselt haben, damit niemand ausser ihm sein Hotel wirklich begreifen konnte.

Schnittstelle von bildender und performativer Kunst
Und so begreift wohl auch niemand ausser dem Künstler:innenpaar und den helfenden Händen, wie «Hûs» aufgebaut ist. Ich verliere schnell die Orientierung in den verwinkelt angeordneten Räumen. Von aussen scheint das Gebäude bei weitem nicht gross genug für all das, was Germann und Gehrig da detailversessen reingepflanzt haben. Es ist nicht das erste Mal, dass die beiden eine «installative Theaterarbeit an der Schnittstelle von bildender und performativer Kunst» entwickeln, wie sie ihr Werk im Projektbeschrieb einordnen. Schon in «Zwischenrich» und «Blessings from a funnel» haben sie aus einer visuellen Idee ein Narrativ entwickelt, haben das Publikum mal mehr, mal weniger partizipierend zu Kollaborateur:innen gemacht. Die Arbeit «Blue Motel» auf dem NF49 war eine Art Vorstudie für «Hûs», ein erstes Ausprobieren der Ideen, die nun «Hûs» tragen.

Doch zurück in die Küche, zurück zu der Frage, ob das nun schon zu viel verraten ist oder womöglich nicht genug, um allen und jedem klarzumachen, dass sich der Weg an den Rand Luzerns mehr als nur lohnt. Darf ich, muss ich noch erklären, dass die Küche, in der wir sitzen, keine echte Küche ist – und doch auch nicht nur Attrappe? Die Bialetti blubbert und blubbert, ohne dass der Kaffee je fertig wird. Zaudernd berühre ich die Herdplatte, öffne ein Schränkchen, atme tief durch die Nase ein, mit geschlossenen Augen. Glaube, jetzt hinter die Kulissen geblickt zu haben, zu verstehen. Ich bin so sicher, was wirklich ist, wie man es im «Hûs» eben sein kann.


Hermann/Gehrig: Immersive Rauminstallation «Hûs»
Bis SO 26. Juni jeweils DO–SA, 17–22 Uhr / SO, 14–18 Uhr
Altes Hallenbad Utenberg Utenbergstrasse 9, 6006 Luzern

Tickets: Nur über www.sudpol.ch, es gibt keine Kasse vor Ort.


041 – Das Kulturmagazin Mai 05/2022

Text: Anna Chudozilov
Header: Ralph Kühne

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