Provinzgefühle in der Grossstadt

PlattenWechsler: Klangkünstler Jul Dillier harrte während des Lockdowns in Wien aus und bastelte an Liedern, die ihn zurück in seine obwaldnerische Heimat tragen. Diese musikalische Reise heisst «solétudes» und ist Dilliers Debütalbum als Solokünstler.

Bild: Ralph Kühne

Dieser Artikel erschien in unserer Maiausgabe. Hier 041 – Das Kulturmagazin abonnieren!

Seine eigene Heimat porträtieren, von Einsamkeit und Isolation erzählen – und das alles nur mit einem einzigen Klavier. Genau das macht der Obwaldner Jul Dillier, der im April sein Solo-Debüt «solétudes» veröffentlicht hat. Der 30-jährige Jazzpianist und Klangkünstler verpackt eine grosse Geschichte in sein erstes Solo-Werk, gespickt mit vielen kleinen musikalischen Anekdoten, die während des ersten Lockdowns im Frühling letzten Jahres entstanden sind.

Aufgenommen hat der zeitweise in Wien lebende Musiker das Album in seiner österreichischen Wohnung. «Der Titel ‹solétudes› spielt einerseits auf das Alleinsein – Französisch solitude – an. Da ‹sol› aber auch Erde bedeutet, meint es ausserdem die Auseinandersetzung mit den eigenen Wurzeln», so Dillier. So ist es naheliegend, dass Gefühle des Alleinseins, des Sich-isoliert-Fühlens und der Verbundenheit zur Heimat auf dem Album ihren Platz finden.

Bei vielen Musikern besteht ein Klavier aus schwarzen und weissen Tasten. Für mich fangen die Möglichkeiten des Instruments erst da an.

So sass Dillier dem Virus ausweichend in seiner Wohnung, ganz ohne äussere Pflichten. Und wie so mancher Musiker verbrachte er die von sozialer Abstinenz dominierten Tage an seinem Instrument, dem Klavier. Etwas anders aber als andere dürfte er die Interaktion mit dem Instrument erlebt haben: Dillier spielt nämlich nicht nur Klavier. Er erkundet es, lotet dessen Möglichkeiten aus. Und: In seiner Musik wird klar, dass sich in einem Flügel eine Vielzahl an Saiten hinter den Tasten verbergen. Dillier erklärt: «Bei vielen Musikern besteht ein Klavier aus schwarzen und weissen Tasten. Für mich fangen die Möglichkeiten des Instruments erst da an.» So wird auf der Scheibe über die Klaviatur gef logen und an Saiten gezupft, gestrichen und auf sie geschlagen, sodass ein Potpourri verschiedenster Klänge entsteht, die das Piano hergibt.

Eine Reihe von Fragen

Der Klangkünstler kam viel in der Welt herum, studierte in Luzern, Basel und Linz Jazzklavier und Perkussion, bevor er aufgrund reger Kontakte mit afrikanischen Musikern für Residenzen nach Burkina Faso, Südafrika und Mosambik reiste. Es folgten Veröffentlichungen und Auftritte mit diversen Gruppen, etwa dem Jazz-Quintett chuffDRONE oder gemeinsam mit Autor Pino Dietieker als Duo Dietiker & Dillier.

Sein Debüt-Album legt nun den Fokus wieder auf Obwalden. Doch was verbindet der Wahlwiener Künstler mit seiner Heimat? Konnte er mit «solétudes» seine diffusen Gefühle fassbarer machen oder gar ungeklärte innere Fragezeichen mit Punkten und Ausrufezeichen akzentuieren? «Es ging nicht darum, Fragen zu beantworten, sondern dass ich mich mit ihnen auseinandersetzen konnte. Meine Musik hat auf den ersten Blick nicht viel mit traditioneller Musik aus Obwalden zu tun. Gleichzeitig merkte ich, als ich in Wien war, dass mich mein Umfeld, in dem ich aufgewachsen bin, schon sehr geprägt hat. Meine Musik ist vielmehr das Aufstellen von Fragen rund um diese Erkenntnisse, ein Ausprobieren und ein Suchen», führt der Klangkünstler aus.

Das dringt durch. So hören sich die Stücke zwar sehr gegensätzlich an, verfliessen aber gleichzeitig auf bemerkenswerte Art ineinander, ergänzen sich, sodass der oder die Hörende mit den erzählten Geschichten mitgehen kann. Experimentelle Auftritte des Klaviers lösen dabei klassischere Klaviersolos ab und erlauben Interpretationsspielraum. «Ob meine Musik etwas mit Obwalden zu tun hat oder nicht, das überlasse ich dem Zuhörer. Ich muss ja nichts in Buchstaben umsetzen, ich arbeite mit viel Freiheit», meint Dillier schmunzelnd.