Problemkind und Rabenmutter

Buchkritik: Tabea Steiners Debüt «Balg» ist mehr als die helvetische Dorfgeschichte, welche der flüchtige Blick auf Cover und Klappentext erahnen lässt. Lesende werden aufgerufen, einiges an Abstraktionsarbeit zu leisten. Lohnt sich das?

Titelbild: Markus Forte

Ein weiteres Buch könnte geschrieben werden mit all den Geschehnissen, die in Tabea Steiners «Balg» ungesagt bleiben. Nicht die folgenschweren Momente des Lebens – eine Entscheidung, ein Streitgespräch, eine kriminelle Tat – rücken im für den Schweizer Buchpreis nominierten Roman in den Lichtkegel der Sprache, sondern das, was diese Kristallisationsmomente jeweils zurücklassen.

Antonia und Chris sind junges Paar, das mit Sohn Timon aufs Land zieht. Ihr neues Domizil richten sie sich im Heimatdorf von Antonia ein, das geprägt ist von provinziellem Überwachungsdrang und geistiger Enge, wie sie auch das (missglückte) Buchcover signalisiert. Was anfangs noch als Umsetzung des Millennial-Dreams erscheint – aufs Land ziehen, eigenes Gemüse anbauen, die Stille geniessen –, führt die Kleinfamilie bald in dessen genaue Umkehrung: eine Art Anti-Idylle. Die Beete vor ihrem Mehrfamilienhaus dürfen erst gar nicht bepflanzt werden, Nachbarn mischen sich überall ein, die Freikirche wartet bereits an der Türschwelle. In Chris’ Worten: Ein «Dorfleben, wo man beim Nachbarn klingeln kann, wenn einem ein Ei fehlt, und dann bleibt man das Ei auf ewig schuldig». Die Beziehung der beiden scheitert bald. Die Trennung bleibt unerwähnt und irgendwo zwischen den Zeilen stecken. Erst viel später lässt ein beiläufiger Kommentar von Chris aufhorchen, als er sagt: «Ich bin wieder in die Stadt gezogen.» Antonia bleibt allein mit dem Jungen zurück.

«Ein Dorfleben, wo man beim Nachbarn klingeln kann, wenn einem ein Ei fehlt, und dann bleibt man das Ei auf ewig schuldig.»

Chris

Mit dem Heranwachsen mutiert Timon zum Problemkind. Vielleicht wegen der Trennung, vielleicht, weil er sich mit seiner Mutter schlecht versteht. Er kriegt immer mehr Ärger in der Schule, hat keine Freunde. Antonia ist mit der Situation überfordert, auch ihr neuer Partner Markus unterstützt sie nicht, im Gegenteil: Timon empfindet er als reinen Störfaktor in dieser noch frischen Liebschaft.

Nur subjektive Einzelsichten

Tabea Steiners Sprache folgt einer Poetik des Unausgesprochenen. Zu oft denken sich die Figuren alles Mögliche über ihre Nächsten und Mitmenschen, zu selten sprechen sie zueinander. In derselben Manier verfährt auch die Erzählinstanz – sie wechselt ihre Perspektiven meist abrupt und verspürt kein Bedürfnis, die klaffenden Leerstellen rückwirkend aufzuheben. Dass nicht nur die Figuren, sondern auch das Buch selbst über so vieles schweigt, trägt erheblich zu seinem Spannungsgehalt bei. Denn im Grunde finden sich Leserinnen des Textes in derselben Situation wieder, in der auch die Dorfbewohner stecken: Wo nur subjektive Einzelsichten kursieren, muss man sich den Rest selber denken.

Und dann springt die Geschichte immer wieder zu Valentin, der früher Lehrer an der Dorfschule war und mittlerweile von seiner Familie verlassen wurde. Valentins Geschichte bildet einen eigenen Erzählstrang, wird parallel erzählt zu derjenigen der zerstrittenen Kleinfamilie – und ist letztlich als trauriges Beispiel dafür zu lesen, was die Dorfdynamik mit einem Menschen anstellen kann. Dass Timon diesen Valentin immer häufiger besucht und Vertrauen zu ihm aufbaut, geschieht sehr zum Unwillen Antonias. Sie kennt Valentin noch als ihren Lehrer aus früheren Tagen und hat ihm ein sich damals zugetragener Vorfall nie verziehen.

Unsympathische Figuren oder strukturelle Gewalt?

Timons Mutter – berufstätig, alleinerziehend, fast mittellos – hat es mitnichten einfach. Es erstaunt deswegen, wie wenig Sympathie man ihr entgegenzubringen gewillt ist. Überhaupt drängt sich immer wieder die Frage auf: Wer sind denn diese Figuren, die in Tabea Steiners Erzählwelt miteinander ringen und auf diesem Wege immer wieder scheitern? Antonia reagiert oft zickig, interessiert sich viel zu wenig für ihren Sohn Timon, sucht ihn nicht, nachdem er von Zuhause wegläuft. Sie nimmt immer alles so auf, als sei es gegen sie gerichtet. Ist sie deshalb eine schlechte Mutter? Trägt sie die Schuld, dass Timon manchmal fiese Aussetzer hat, etwa, wenn er mit dem Fahrrad Igel überfährt?

Tabea Steiners Debütroman weigert sich, Urteile zu fällen. Und das ist eine seiner Stärken. Denn ja, Timon ist ein rebellierender Junge aus einer zerfallenen Familie, dem es an Aufmerksamkeit und Zuneigung fehlt und der keinen Platz bekommt, weil seine Eltern zu sehr mit ihren eigenen Problemen beschäftigt sind. Aber der Roman zeigt auch die andere Seite, etwa jene der Mutter, die es mit Timon oft schwer hat.

Die Menschen und die Welt, die sich auf diesen Buchseiten ausbreiten, werden immer wieder in den Blicken ihrer Gegenüber gespiegelt, was ihre Silhouetten verzerrt, verschiebt oder zurechtrückt – je nach Position, aus der heraus ein Licht auf sie geworfen wird. Und das ist das Ungewöhnliche und auch das Herausragende an «Balg»: Nie genau zu wissen, wie genau. Der Roman umkreist viele seiner Themen, berührt einige, aber erfasst sie nie ganz. Daraus geht eine Stimmung hervor, sich speisend aus dem Widerstreit der engen, in sich geschlossenen Erzählwelt, die deutungsoffen und voller Auslassungen erzählt wird. Das macht das Lesen anregend – und anspruchsvoll ausserdem.

Sofalesung: Tabea Steiner (Moderation: Mariann Bühler)
SA 16. November, 19 Uhr
Sonneggstrasse 3, Bürglen

Tabea Steiner: Balg
Roman. edition bücherlese. 2019. ca. 240 S., CHF 29.