Poesie wandern

Literaturhaus Zentralschweiz, Stans, 16.01.2020: Wenn Landschaften ineinander verschmelzen: Das lit.z schuf am Donnerstagabend ein grosses Podium für die Lyrik und einen krönenden Beginn der Poesiereihe der Zentralschweiz 2020.

An diesem Abend im Literaturhaus Zentralschweiz gehen wir auf eine gedankliche Wanderung. Sie führt aus einer winterlich grauen Stadt hinaus, durch Moorland und entlang des Meers, bis ins unerforschte Neuland der Ideen. Ein «Experiment», wie der Abend verheissungsvoll bezeichnet wird, bildet den Auftakt zur dritten Poesiereihe der Zentralschweiz.

Raum-Zeit-Lyrik

Zu Gast sind Thilo Krause, Eva Maria Leuenberger und Levin Westermann. Was die drei Lyriker*innen verbindet, sind bildstarke Werke, die sich mit den Themen Lebensraum und Vergänglichkeit auseinandersetzen. Krause liest aus seinem 2018 veröffentlichten Band «Was wir reden, wenn es gewittert» Gedichte, die nah am Alltag sind. Sie schildern die kleinen Einzelheiten des (Stadt-)Lebens auf stimmungsvolle Weise. Jedes davon steht für sich allein. In ihnen liege eine «zärtliche Sachlichkeit», beschreibt Literaturkritikerin Beatrice Eichmann-Leutenegger. Sie moderiert den Abend mit Feingefühl und poetischem Scharfsinn.

«Intertextualität ist der Auslöser für Lyrik.»

Levin Westermann

Im Gegensatz zu Thilo Krause konzentriert sich Eva Maria Leuenberger in ihrem sprachlebendigen Debüt «dekarnation» auf einen bestimmten Tatort: Im Mittelpunkt ihres Gedichtzyklus` stehen zwei 2000 Jahre alte, «schlafende» Moorleichen, die um 1950 herum in Dänemark gefunden wurden. Ob sie eine Vorliebe für Morbidität hege? Leuenberger schüttelt den Kopf: ihre Faszination gelte dem Phänomen der Konservierung über Jahrhunderte, der plötzlichen Unbedeutsamkeit der Zeit; daran sehe sie nichts Morbides.

Auch Westermanns 2019 erschienener Gedichtband «bezüglich der schatten» führt uns in den Norden: ganz nah an prosaischer Artistik erzählt er zwei Geschichten parallel. Zum einen die eines Mannes, der jeden Tag aufs Neue misst, wie der Meeresspiegel ansteigt, zum anderen jene einer sich stetig verändernden Landschaft. Fragen nach Trauer und Schuld werden aufgeworfen. Die Gedichte sind durchsetzt von Zitaten – eine interessante Reaktion und stimmige Diskussion auf bereits Bestehendes. «Intertextualität ist der Auslöser für Lyrik», erklärt er.

Über das Dichten

Sowohl Leuenbergers als auch Westermanns Gedichte fliessen ineinander, lesen sich in einem Schwung. Er betont die wesentliche Herausforderung, von Anfang bis Ende den gleichen Ton beizubehalten, und zu verdichten, soweit es geht. Sein Schreiben sei also eine «Übung in sprachlicher Askese», ergänzt Eichmann-Leutenegger lächelnd, und er stimmt ihr zu. Auch Leuenberger überzeugt mit gewitzten Antworten; so erzählt sie zum Beispiel von der verschlungenen Entstehungsgeschichte ihres Werks oder diesem Gefühl, wenn ein Gedicht so bleiben soll, wie es gerade ist.

«Ihr Schreiben ist eine Übung in sprachlicher Askese.»

Beatrice Eichmann-Leutenegger über Levin Westermann

Thilo Krause starrt meistens nachdenklich vor sich hin. Was Gedichte so einzigartig mache, sei ihre Nicht-Nacherzählbarkeit, meint er. Für ein paar Minuten erfüllt der Klang seiner Stimme den Raum, als er beschreibt, wie eine Theorie Hawkings in eigenen Worten wiedergegeben werden kann und der Kontext derselbe bleibt, ein Gedicht jedoch nicht. Das Publikum lauscht aufmerksam, und auch Eichmann-Leutenberger nimmt ihre Rolle als unaufdringlich-interessierte Moderatorin auf wunderbare Weise wahr.

Ob die Titulierung «Experiment» schlussendlich nicht ein bisschen mehr Abenteuerlich-Waghalsiges versprochen hatte, ist fraglich, denn alles lief nach Plan. Trotzdem: zu schnell verging der erste Lyrik!-Abend, viel länger hätte man den fesselnden Gesprächen lauschen können. Er machte auf jeden Fall neugierig auf die weiteren Veranstaltungen der Poesiereihe 2020, an denen andere Lyriker*innen über ihre Werke und die Sprache an sich diskutieren. Denn, wie Levin Westermann den Sprachphilosophen Ludwig Wittgenstein passend rezitierte: «Die Grenzen unserer Sprache sind die Grenzen unserer Welt.»

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