Pathos der Distanz

Social Media, 8.5.2020: Barbara Hennig Marques und Olivia Lecomte inszenieren auf Social Media ihre digitale Performance «Der Lockdown des Löwen – the Lion’s Lockdown» (2020) als fotografische Erzählung unserer Verhaltensanweisungen. Doch wie passen Performance und Bilder im digitalen Medium zusammen? Eine Kritik.

Bild: Screenshot Instagram / Barbara Hennig Marques

Das Löwendenkmal. Jedes Mal wenn wir Besuch aus Asien oder den USA hatten, pilgerten wir dort hin. Warum? Ja, es ist ein grosser steinerner Löwe. Schläft er? Weint er? Nein, er ist tot!

Wieso, weshalb, warum erfuhr ich später im Geschichtsunterricht. Schweizer Gardisten beschützten den leeren (!) Tuilerienpalast des französischen Königs Louis XVI. vor Revolutionär*innen und kamen dabei um. Auf Initiative eines damals beurlaubten Gardeoffiziers aus Luzern wurde den Schweizer Soldaten mithilfe höfischen und aristokratischen Geldern aus dem Ancien Régime ein Denkmal gesetzt. Das ist, als würden wir heute Schweizer Söldnern, die den Präsidentenpalast eines Diktators beschützten und beim Sturz durch Revolutionäre aus dem Volk umkamen, als Märtyrer betrauern und durch Potentatengeldern aus aller Welt ein Denkmal setzen.

Mit diesem womöglich unfairen Vergleich erkennt man gleich, wie sich die Bedeutung eines Werkes verändern kann. Am Monument nagte der Zahn der Zeit, bis sein Mythos glattgeschliffen worden ist. Eine Erosion des Sinns zum must see einer Sightseeing-Tour. Festgehalten in einem Bild, das als Marke und Markierung der sozialen Distinktion fungiert.

Der Signifikant (Bezeichnende) hat sich vom Signifikat (Bezeichneten) gelöst, so dass Letzteres von frei flottierenden Signifikanten besetzt werden kann. Das heisst von politischen, historischen, ökonomischen, touristischen und künstlerischen Sinngebungen. Im Rahmen des 200-Jahr-Jubiläums möchte die nahe gelegene Kunsthalle Luzern mit ihrem Mehrjahresprojekt «Löwendenkmal 21», kurz «L21», diese Sinn-Dimensionen ergründen.

Fatale Strategien

Die entscheidende Frage ist natürlich, wie dies in den sprichwörtlich gewordenen «Zeiten des Coronavirus» geschehen soll. Allzu naheliegend ist da das Ausweichen ins Netz. Über Sinn und Unsinn der Dislozierung der Kunst ins Netz wurde hier wie dort breit debattiert.

Der steinerne Löwe soll erneut zur Allegorie werden. Nicht mehr der Treue und Tapferkeit der Schweizer Garde im Tuilerienpalast, die in den Tod gingen, sondern der Einsamkeit und Distanz der Menschen im Lockdown, die dem Tod entfliehen wollen.

Ist es eine blosse Flucht aus ökonomischer Notwendigkeit? Oder werden die sozio-politischen Bedingungen der «Neuen Normalität» in der Krise, aber auch die Prekarität in der alten Normalität thematisiert? Und findet eine künstlerisch-kritische Reflexion der spezifischen Medialität statt, die sich in Form und Inhalt der Kunst ausdrückt?

Das Verschwinden der Präsenzpflicht

Die beiden Künstlerinnen Barbara Hennig Marques (*1969 in Luzern) und Olivia Lecomte (*1996 in Birkenhead UK) inszenieren auf den Social-Media-Plattformen Facebook und Instagram ihre «digitale Performance» mit dem Titel «Der Lockdown des Löwen – the Lion’s Lockdown» (2020). Der steinerne Löwe soll erneut zur Allegorie werden. Nicht mehr der Treue und Tapferkeit der Schweizer Garde im Tuilerienpalast, die in den Tod gingen, sondern der Einsamkeit und Distanz der Menschen im Lockdown, die dem Tod entfliehen wollen.

Dazu erhielten wir universale «Verhaltensempfehlungen» in Form von absoluten «Glaubenssätzen». Dogmen für neue Rituale, deren Mythen die scripted Performances ironisch subvertieren wollen. In insgesamt sieben Zyklen, die sich erzählerisch jeweils einem Dogma widmen, hält Barbara Hennig Marques – mit gebührendem Abstand von zwei Metern – die Protagonistin Olivia Lecomte fotografisch fest. Dabei handelt es sich durchwegs um Schwarzweissfotografien im meist grellen Mittagslicht, die wie Filmstills eines Kopfkinos wirken sollen. Präsentiert als Social-Media-Posts mitsamt (Serien-)Titel, Credits und Hashtag-Orgien.

In der ersten Serie «Stay Home» etwa sehen wir ein Picknick vor dem Löwendenkmal mit einer Unmenge von geleerten Weinflaschen und einer Corona-Flasche (!). Die Protagonistin – eine «asiatisch anmutende Frau» – trägt mal eine Krone (!) aus WC-Rollenkarton, mal hält sie suizidal gelangweilt Wasserpistolen an ihren Kopf. Ihren ausgezogenen BH funktioniert sie mit einem DIY-Hack kurzerhand in eine Mundmaske um. Als «Metapher für die Mehrheit der Tourist*innen» vollführt sie auch noch das obligate jump picture vor dem steinernen Löwen.

Paradoxe Kommunikation

Ist das schon Kunst? Oder bloss eine Abbildung der Kunst, der Performance? Verfolgt die Abbildung einen äusseren Zweck: die Vermarktung, die Anzeige, die Information? Oder ist sie Selbstzweck? Ist die Abbildung – also der Account, die Fotos, die Posts – die Performance? Was ist dann deren Performativität? Diese Fragen drängen sich auf und bauen einen inneren Widerstand auf, der einen Konflikt auslöst: Wie passen Performance und Bilder im digitalen Medium zusammen?

Die zwölf Sekunden pro Bild im Museum reduzieren sich auf eine zwölftel Sekunde pro Post im Feed.

Die sozialen Medien entwickelten sich schnell von der öffentlichen Pinnwand für private Fotos und Geburtstagsglückwünsche zu universellen Data-Mining- und Marketing-Plattformen. Auf diesen herrscht ein anything goes: Influencer*innen mimen Freund*innen, Freund*innen mimen Influencer*innen …

Im Plattform-Kapitalismus herrscht eine unerbittliche Ökonomie der Aufmerksamkeit. Beim Scrollen durch die unendlichen Feeds buhlen die Posts um likes and hearts. «Digital performance» bedeutet hier schlicht Klickrate. Die zwölf Sekunden pro Bild im Museum reduzieren sich auf eine zwölftel Sekunde pro Post im Feed. Im Strom des Markenbewusstseins sind wir auf der Suche nach dem USP. Mit Big-Data-Algorithmen oder old-school-Marketing-Tools kreieren wir Content nach einem Produkt-Design für die entsprechende User-Erfahrung: Lustiges, Attraktives, Inspirierendes – alles für das Wachstum.

Das gilt sowohl für das Selbst, als auch für die Touristenattraktion oder die Kunst. «Sein ist wahrgenommen werden», sagte ein Philosoph des 18. Jahrhunderts. Was ist ein Denkmal, wenn niemand es besucht? Was ist eine Performance, wenn niemand sie betrachtet? Was ist ein Post, wenn niemand ihn beachtet?

Was die digital performance der «Digitalen Performance» angeht, so scheinen die klassisch anmutenden Schwarzweiss-Fotografien gar keine Performance zu sein. Doch die konservierte Performance möchte vielleicht gar kein Spielen ab Konserve sein, sondern ein Spiel mit der Konservierung.

Dieser unaufhebbare Mangel

Nach gängigen Definitionen ist eine Performance ein Prozess der Verkörperung, der sich als Aufführung zwischen leiblich ko-präsenten Akteuren und Zuschauern ereignet. Durch das Fühlen und Nachfühlen des Körpergefühls im fluiden Zwischen besitzt die Performance eine flüchtige Materialität, die sich nicht als Repräsentation von etwas Gegebenem fixieren lässt.

Die «Digital Performance» erzeugt nun eine Spannung. Zwischen Materialität und Immaterialität, Körperlichkeit und Körperlosigkeit, Einfühlung und Sinnbildung. Aber auch zwischen Vierdimensionalität und Zweidimensionalität, Bewegung und Stillstand, Farbe und Schwarzweiss. Die digitale Performance erscheint geradezu als Gegenteil der Performance. Oder als Nullpunkt der Performance.

Die notwendigen Bedingungen der Situation nehmen wir als Einschränkungen des Spielraumes wahr. Doch diese Einschränkungen können auch produktiv, ja kreativ verwendet werden. Die Reduktion dessen, was eine Performance ausmacht, ermöglicht den Künstler*innen ein Spiel von Präsenz und Absenz, von Fülle in der Leere.

Sie geben uns etwas und gleichzeitig auch den Mangel von etwas. Anstatt vergeblich zu versuchen, im Live-Stream das Original nachzuahmen und dessen Fülle zu erreichen.

Denn was bleibt von der Aura übrig, wenn das Ereignis im Strom der Bilder in meinen Händen zerrinnt? Doch scheint in dieser Leere nicht das Ereignis der Ereignislosigkeit auf? Und fühlt die depressive Hedonie diese lustlose Lust nach?

Manche Schwarzweiss-Fotos erinnern denn auch ein wenig an Albrecht Dürers Meisterstich «Melencolia I» (1514), konterkariert durch poppig-(post)ironische Verspieltheit. Gerade hat mit «Lion’s Lockdown» der vierte, mittlere und Haupt-Zyklus begonnen.

Schaut ihn euch an!

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

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