NB: Ihr habt drei Personen begleitet, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, in zwei Fällen wart ihr beim Gerichtsprozess dabei.
MS: Wir haben je eine Person allein betreut und eine gemeinsam. Das war sehr aufreibend und es war schwierig, sich emotional und professionell immer wieder zu distanzieren. Es ist einige Male vorgekommen, dass wir nach Hause gingen und weinten.
NW: Ein Anwalt hat beim Berufungsprozess gemeint, alle Männer wüssten ja, wenn man eine Frau vergewaltigen möchte, würde man das tun und sich nicht nur an ihr reiben. Da sitzt du im Gerichtssaal und würdest gerne über ihn einen Artikel schreiben, damit er gleich seine Berufslizenz verliert. Aber du bist in einer anderen Rolle. Das war schwer auszuhalten. Überhaupt hat es mich erstaunt, dass Betroffene bei all dem einen Prozess zu Ende bringen können.
NB: Wie wolltet ihr die Geschichten der Betroffenen erzählen?
NW: Es war uns wichtig, ihre Geschichten so zu erzählen, wie die Betroffenen sie uns gegenüber geschildert haben und schildern wollten. Wir haben lange darüber gesprochen, in welcher Tiefe und Genauigkeit wir sie wiedergeben wollen, gerade im Hinblick auf die Beschreibung der Übergriffe. Dinge auszulassen, weil sie für Lesende potenziell störend sind, schien uns der falsche Weg; gleichzeitig wollten wir es vermeiden, die Geschichten auf ein Schock-Potenzial hin auszuschlachten. Alle Frauen, deren Geschichten wir erzählen, haben die Texte gegengelesen und abgenommen, es war uns ein zentrales Anliegen, dass sie mit der Erzählung ihrer Erlebnisse einverstanden sind. Aufgebaut ist das Buch entlang der ersten drei Institutionen, mit denen Personen in Berührung kommen, die sich für eine Anzeige wegen sexualisierter Gewalt entscheiden: die Polizei, die Opferhilfestellen und die Justiz.
NB: Seid ihr mit den Betroffenen noch in Kontakt?
NW: Von einer Person weiss ich, wie wichtig es ihr ist, dass es dieses Buch gibt. Aber ich glaube, sie wird es nicht einmal lesen. Sie hat im zweiten Prozess Recht erhalten und damit ist diese Geschichte für sie abgeschlossen.
MS: Eine der Frauen hat mich gefragt, ob sie an die Vernissage kommen dürfe. Sie möchte wissen, wie es weitergeht. Und die dritte Person ist vor allem einfach froh, ihre Geschichte erzählt zu haben. Sie möchte dazu beitragen, dass anderen nicht das Gleiche passiert.
NB: Durch eure Recherchen wird die Polizei als eine Institution kenntlich, die häufig ungeeignet scheint, mit Betroffenen von sexualisierter Gewalt angemessen umzugehen. Im Buch wird von einem Polizisten berichtet, der bei der Einvernahme zu seinem Arbeitskollegen – für die Betroffene gut hörbar – sagt: «Also wenn ich vergewaltigt worden wäre, würde ich mehr weinen.» Haben euch solche Vorfälle erstaunt?
NW: Nein.
MS: Überhaupt nicht. Dafür kennen wir einfach zu viele Geschichten von Freundinnen und haben selbst Erfahrungen gemacht. In jeder Institution arbeiten Menschen, die mit sexistischen Vorstellungen sozialisiert wurden. Trotzdem muss gesagt werden, wie gross die Probleme der fehlenden Zuständigkeit und des mangelnden Bewusstseins für die eigene Frauenfeindlichkeit bei der Polizei sind. Und: Gegen die Polizei kannst du dich nicht wehren. Agota Lavoyer, Expertin für sexualisierte Gewalt, fragt deshalb: Wie geeignet ist eine Institution wie die Polizei überhaupt, um mit Betroffenen von sexualisierter Gewalt umzugehen?
NW: Solange wir als Gesellschaft an dem Punkt sind, dass wir eine Polizei haben, müssen wir lernen, mit ihr umzugehen. Das klingt reformistisch, ich weiss. Als ich für die Recherche bei der Polizeischule war, hat mich überrascht, wie solid der Unterricht war. Mir ist klar, dass alle gewusst haben, dass eine Journalistin kommt, und sie mich deshalb zu den Besten geschickt haben. Dennoch: Wenn das die Unterrichtsmaterialien sind, stellt sich schon die Frage, wie es trotzdem zu diesen Vorfällen kommt.
NB: Wer sexualisierte Gewalt erlebt hat, erhält Anspruch auf eine kostenlose Beratung bei der Opferhilfestelle. In eurem Buch schreibt ihr, dieses Wissen sei wenig verbreitet. Warum ist das so?
MS: Opferhilfestellen sind aus feministischen Bewegungen der 1960er-Jahre entstanden. Es gibt sie also noch nicht so lange. Ich glaube, dieses fehlende Wissen hängt vor allem damit zusammen, wie die Schweiz mit Gewalt gegen Frauen umgeht. Während des Lockdowns gab es in Italien oder Spanien eine Reihe von Aktionen, in denen Menschen in Supermärkten geflyert haben, um auf Hilfestellen aufmerksam zu machen. So was gab es in der Schweiz nicht.
NB: Gewalt gegen Frauen wird noch immer als Privatsache verstanden.
MS: Du musst dich selbst darum kümmern, dass du die notwendigen Infos bekommst. Sie werden nicht an dich herangetragen. Hierzulande wird nach wie vor zu wenig Geld gesprochen, wenn es um die Prävention bezüglich Gewalt gegen Frauen geht.
NW: Ich frage mich: Wenn du dich bei deiner Gemeinde anmeldest, warum kriegst du nicht ein Infoblatt mit den Opferhilfestellen des Kantons? Auch in der Schule wirst du mit dem Thema nicht konfrontiert. Da kommt der:die Verkehrspolizist:in, und das wars.
NB: Sexualisierte Gewalt ist in erster Linie ein Männerproblem: Ihr liegt die Vorstellung zugrunde, Männer hätten ein Anrecht auf Frauen und ihre Körper. Welche Fragen müssen sich Männer endlich stellen?
MS: Ich nehme bei Männern eine grosse Überforderung wahr. Unser Bild von Männlichkeit besteht in der Ablehnung des Weiblichen: Du bist nicht feinfühlig, nicht weich, nicht emotional. Aber was bist du dann? Ich erwarte von Männern, dass sie sich überlegen, wie sie eigentlich sein wollen.
NW: Auch mit der Nur-Ja-heisst-Ja-Reform im Sexualstrafrecht sind nicht alle Probleme gelöst. Männer müssen sich nicht nur mit Konsens an sich beschäftigen, sondern sich auch fragen, ob Konsens je nach Situation überhaupt möglich ist. Da geht es um die Reflexion ihrer eigenen Position: Ist diese Frau meine Angestellte? Ist sie viel jünger als ich oder steht sie in ökonomischer Abhängigkeit zu mir? Nur-Ja-heisst-Ja ist damit erst der Anfang.
Lesung: Hast du Nein gesagt?
Vom Umgang mit sexualisierter Gewalt
MI 3. Mai, 20 Uhr
Neubad, Luzern
Miriam Suter, 1988, ist Journalistin und schreibt für die Frauen-Finanzplattform «ElleXX» über gesellschaftspolitische Themen. Daneben produziert sie gemeinsam mit der Slam-Poetin Lisa Christ den feministischen Podcast «Faust & Kupfer».
Natalia Widla, 1993, hat Politikwissenschaften und Gender Studies studiert. Sie arbeitet als freischaffende Journalistin und schreibt unter anderem für die «Fabrikzeitung», die «WOZ – Die Wochenzeitung» und «Das Lamm».