Nackte Gewalt, männlicher Blick, Klischee und grobschlächtige Symbolik

Benjamin Brittens Kammeroper «The Rape of Lucretia» feierte am 19. März Premiere im Luzerner Theater. Unsere Autorin hat die Voyeur*innen, eine Gruppe von jungen Theaterinteressierten, die sich regelmässig gemeinsam Bühnenstücke ansehen und darüber diskutieren, begleitet. Zum Schluss war man sich mehrheitlich einig: Die Inszenierung dieses Schändungsmythos hat vor allem ein wichtiges Thema verpasst und das Luzerner Theater einmal mehr fehlenden Mut bewiesen. Und warum eigentlich, fragt die Autorin, wird hier in der Oper nicht auf die Musik vertraut?

⚠️ Triggerwarnung: Vergewaltigung

Man habe schon geahnt, dass dies ein schwieriger Abend werden würde, meint Nadine Halter, die an diesem Samstagabend das Gespräch der Voyeur*innen leitet. Schon vor der Premiere schrieb Jana Avanzini im Online-Magazin Kultz: «In Bühnenstücken hat die Misshandlung von Frauen lange Tradition. So auch in der Oper ‹The Rape of Lucretia›, die am Samstag Premiere feiert. Muss das sein?» Nun ist die Frage, ob man solchen Stoff auf die Bühne bringen soll, durchaus mit «Ja» zu beantworten. Weil man Mythen, Klischees und tradierte Weiblichkeitsbilder nicht aus der Welt schafft, indem man sie von den Bühnen verbannt. Und weil man dem Publikum durchaus etwas zutrauen darf. Gerade an Letzterem krankt die Inszenierung der Regisseurin und Videokünstlerin Sarah Derendinger – und an einer symptomatischen Inkonsequenz in der Umsetzung. Die Frage bei der Aufführung eines Stücks, das die Vergewaltigung einer Frau und deren Selbstmord thematisiert, muss nicht die Frage nach dem Ob, sondern nach dem Wie sein. Aber beginnen wir von vorne.

Eine Heilige und lauter Huren
Die Geschichte der Kammeroper ist schnell erzählt. Während der Abwesenheit ihres Ehemannes Collatinus dringt Prinz Tarquinius ins Haus der Lucretia ein und vergewaltigt sie, worauf Lucretia sich umbringt. Als christusgleiche Märtyrerin gefeiert, wird Lucretia als Symbol für den Widerstand gegen die etruskische Herrschaft über Rom instrumentalisiert.

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Bereits der erste Akt macht die Lager deutlich: Da die «heilige, keusche, liebliche» Lucretia, die von allen Männern als ehrbare Frau in den Himmel gelobt wird, dort alle anderen untreuen, liederlichen Frauen. «Frauen sind von Natur aus Huren», singen die Männer. Dargestellt werden der etruskische Prinz Tarquinius und die römischen Generäle Junius und Collatinus zunächst als trunkene, durchaus lächerliche Narren, während die Frauen als Objekte der Begierde über die Grossleinwand flimmern, wie man sie schon allzu oft gesehen hat: sexy Kleider, obszöner Blick in die Kamera, Close-ups auf Münder und aufgerissene Augen. Hier herrschen der männliche Blick, nackte Gewalt, das Klischee und eine grobschlächtige Symbolik. Dies konsequent umzusetzen, hätte im Grunde durchaus Potenzial, liessen sich so die Klischees in ihrer Überzeichnung doch sich selbst entlarven. Bis zum ersten Akt hoffte man darauf – im besten Fall auf eine Persiflage.

Spätestens als die Silhouette Lucretias, die sich mehrheitlich in einem drehbaren, geschlossenen verglasten Kubus auf der Bühne befindet, vor dem eigentlichen Gewaltakt hinter einer beschlagenen Scheibe zu sehen ist, eine zarte Hand an die Wand gedrückt, und ein Harfensolo einsetzt, fragt man sich, ob die Inszenierung hier einfach nur blind ist für die Reproduktion gängiger Bilder.

Voyeuristische Kamera und ästhetisierte Gewalt
Der Höhepunkt dieser Blindheit erfolgt selbstredend mit der Inszenierung der Vergewaltigung selbst, die alles und nichts zeigt. Der Kubus, der in seiner Anlage durchaus geschickt wäre, um eine Vergewaltigung entweder zu zeigen oder zu verbergen, wird hier nämlich zum Blickpunkt für eine voyeuristische Kamera. Ein Kameramann tritt auf die Bühne und filmt aus nächster Nähe den Gewaltakt, den wir als Zuschauer:innen drastisch, aber immer ästhetisiert auf Grossleinwand mitverfolgen: In Zeitlupe sehen wir blutverschmierte Hände, Arme und Gesichter, hauptsächlich das verzerrte Gesicht von Lucretia in Close-ups. Eine beispielhafte Szene für die Problematik ästhetisierter Gewalt. Und dass sich das weisse Tuch, in das Lucretia gehüllt war, nun blutrot färbt, ist maximal fürs Bühnenbild stark.

 

Ein Kameramann tritt auf die Bühne und filmt aus nächster Nähe den Gewaltakt, den wir als Zuschauer:innen drastisch, aber immer ästhetisiert auf Grossleinwand mitverfolgen.

 

Überhaupt fragt man sich, warum man hier nicht auf die Musik vertraut. Das Eindringen von Tarquinius in Lucretias Gemach beschränkt sich nämlich auf musikalischer Ebene auf einen Sprechgesang, der lediglich von Schlagwerk begleitet wird. Die Musik dieser kompakten Kammeroper, die im Übrigen mit dem nur dreizehn Instrumentalist:innen umfassenden Orchester und den acht Solist:innen wirklich toll besetzt ist, würde durchaus für sich sprechen. Drastisch, intensiv und beklemmend schön genug. Man hätte durchaus die Lichter löschen können für diese Vergewaltigungsszene. Und hätte ihr damit weniger an Kraft und Brutalität genommen.
 


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Zum Schluss noch schnell das Patriarchat bashen
Zum Schluss, nachdem Lucretia nach ihrem Selbstmord in einer Art Epilog als Heilige besungen wird, deren «Opfer» praktisch der Kreuzigung Jesus gleichkommt, kippt das Bild definitiv ins Schiefe. Das Schlussstandbild: Drei der Solist:innen und sieben Statist:innen, blumenbekränzt, in Jeans und lediglich BHs, ihre nackten Oberkörper mit Slogans beschrieben: «My body» – «I dont want your society» – «Smash Patriarchy». Ist das wirklich ernst gemeint? Und ist es schon symptomatisch, dass im Programmheft zwischen Informationen zum Komponisten und zum Operntopos auf einer schmalen Seite noch kurz ein paar Statistiken zu ungewollten sexuellen Handlungen in der Schweiz platziert sind? Als ob man sich damit der Aufgabe entledigt hätte, sich mit irgendetwas auseinanderzusetzen.

 

Es sei schade, meint die Leiterin der Diskussion zum Schluss, dass die Auseinandersetzung mit politischen Themen eher in der freien Szene oder in kleineren Häusern stattfinde, wo weniger Geld vorhanden sei.

 

Bei der anschliessenden Diskussion mit den Voyeur*innen, von denen an diesem Abend vier Frauen und ein Mann anwesend sind, ist es denn auch der Schluss, der die meisten «fast schon genervt» hat. Es sei, als hätte man zum Ende noch schnell ein «Demobildli» stellen und das Patriarchat bashen wollen, nachdem man ein ganzes Stück bis dorthin klassisch-konservativ durchexerziert habe, meint eine Frau. Bis auf zwei Personen, die noch nie in der Oper waren und denen das «einfach gefallen» hat, sind sich alle einig, dass das Stück vor allem fehlenden Mut und fehlende Haltung beweist. Darüber, ob überhaupt eine Vergewaltigung auf der Bühne gezeigt werden soll, ist man geteilter Meinung, aber man ist sich darin einig, dass die Variante hier mehr als problematisch sei. Und was sie mit der Musik anfangen konnten, fragte ich die Gruppe. «Stimmt, die Musik!» antwortete eine Frau. «Es war so viel, Video, Text, Bühnenbild, Requisiten und Licht, dass ich fast gar nicht darauf achten konnte.»

 

Es sei, als hätte man zum Ende noch schnell ein «Demobildli» stellen und das Patriarchat bashen wollen, nachdem man ein ganzes Stück bis dorthin klassisch-konservativ durchexerziert habe.

 

Fehlender Mut
Es sei schade, meint die Leiterin der Diskussion zum Schluss, dass die Auseinandersetzung mit politischen Themen eher in der freien Szene oder in kleineren Häusern stattfinde, wo weniger Geld vorhanden sei. Und man würde sich das ja wirklich wünschen: eine opulente Oper, mit viel Pomp und toller Besetzung, wo man sich aber konsequent und reflektiert mit brisantem Stoff auseinandersetzt. Stattdessen scheint es, als ob es das Luzerner Theater hier vor allem allen recht machen wollte: dem getreuen, eher konservativ geprägten Stammpublikum und denen, die sich zufriedengeben, wenn man auf einer Seite im Programmheft oder in einem schiefen Schlussbild kurz politische Korrektheit markiert. Sowohl die Voyeur*innen als auch die Rezensentin gehören nicht dazu.

The Rape of Lucretia_Vladyslav Tlushch-Solenn Lavanant-Linke_Luzerner Theater_Foto Ingo Hoehn.jpg

 


Die Voyeur*innen Luzern
Es gibt sie in Basel, Bern, Zürich, Graubünden und Luzern: Die Voyeur*innen. Eine Gruppe von Menschen zwischen 15 und 30 Jahren, die sich von September bis Juni jeden Donnerstagabend trifft und gemeinsam die Luzerner Kulturlandschaft erkundet. Dazu gehören Theater und Tanz, Performance und Lesung, im Luzerner Theater, Südpol oder Kleintheater und in vielen mehr. Es geht nicht nur ums gemeinsame Schauen, sondern auch ums Diskutieren, Austauschen und Befragen – untereinander und mit den Regisseur:innen, Schauspieler:innen, Tänzer:innen und anderen Expert:innen.

dievoyeure.ch/luzern


The Rape of Lucretia
von Benjamin Britten
ab SA 19.03.2022 (Premiere)
im Luzerner Theater

luzernertheater.ch/therapeoflucretia

Fotos: Ingo Höhn
Quelle: luzernertheater.ch/medien