Muttern, bis es weh tut

In ihrem Stück «Mama Love» verhandelt Lea Whitcher Erfahrungen und Erwartungen rund um das Thema Mutterschaft. Das Ergebnis ist eine Mischung aus Theater und Stand-up-Comedy vom Feinsten: witzig, klug und schmerzhaft nah an der Realität.

Ende 2021 feierte «Mama Love» Premiere in Zürich, nun geht Lea Whitcher mit ihrer One-Woman-Show auf Tournee und legt dabei auch im Luzerner Südpol einen Halt ein. Als ich mit Whitcher im August spreche, ist sie gerade für einen Monat in Schottland. Pro Helvetia hat sie mit ihrem Stück an das Edinburgh Festival Fringe entsandt. Natürlich freut sich Whitcher darüber, sagt aber auch unumwunden: «Es ist knallhart.» Regelmässig sitzen nur wenige Personen im Publikum, ohne ihre Energie sei es nicht immer einfach, auf der Bühne eine gute Show abzuliefern. «Es ist ein bisschen wie bei der Geburt», sagt sie. «Viele haben mich gewarnt, dass es schwierig werden könnte, und dennoch habe ich bis zum letzten Moment geglaubt, dass ausgerechnet ich das trotz all den Geschichten gut hinbekommen werde.»

Mächtiges Patriarchat

Damit sind wir mitten im Thema: Mutterschaft und die Narrative, die damit einhergehen. Das fängt schon in der Schwangerschaft an und findet einen ersten Höhepunkt während der Geburt. «Du sollst möglichst natürlich gebären, Schmerzmittel sind nur was für Frauen, die sich wichtiger nehmen als die Gesundheit des Kindes», benennt Lea Whitcher ein gängiges Motiv und fügt an: «Die Bedürfnisse der Mutter spielen – wenn überhaupt – eine untergeordnete Rolle. Eher wird die Aufmerksamkeit auf die Krankenhäuser gerichtet, die Geburten nicht nur sicher, sondern auch effizient abwickeln möchten.» Das Stück «Mama Love» benennt solche Narrative, reflektiert sie klug und verortet sie im gesellschaftlichen Kontext als mächtige Instrumente des Patriarchats. All die Vorstellungen rund um Mutterschaft sollen Frauen klein und fremdbestimmt halten. Sie sorgen dafür, dass die kräftezehrende und unbezahlte Care-Arbeit durch das Versprechen der unendlichen Liebe sowohl zum als auch vom Kind als entschädigt gilt. Das bringt Whitcher in ihrem Stück mit viel Fantasie, Humor und unter Einsatz des eigenen Körpers immer wieder auf den Punkt.

Kaum ist das Kind geboren, werden Müttern neue Geschichten erzählt: jene von der absoluten Verantwortung für die Entwicklung eines kleinen Menschen zum Beispiel. Wer das Stillen nicht richtig hinbekommt, bringt sein Kind um mehrere Intelligenzquotient-Punkte. Das zumindest ist das Resultat einer wissenschaftlichen Studie. Doch warum wird genau diese Frage untersucht und nicht etwa, ob die Intelligenz von Kindern steigt, wenn Väter während der ersten sechs Monate einen substanziellen Teil der Betreuung übernehmen? Whitcher spielt in ihrer Show eine ganze Reihe solcher Geschichten durch, stellt sich und dem Publikum wichtige Fragen. Sie befasst sich auch immer wieder mit der Tendenz von Müttern, sich gegenseitig zu vergleichen, in Konkurrenz zu treten und sich dadurch oft genug in Selbstzweifel zu stürzen. Und wer reibt sich da zufrieden die Hände? Natürlich: das Patriarchat.

 

«Du sollst möglichst natürlich gebären, Schmerzmittel sind nur was für Frauen, die sich wichtiger nehmen als die Gesundheit des Kindes», benennt Lea Whitcher ein gängiges Motiv.

 

Mutterschaft als Urlaub

In einer der eindringlichsten Szenen kämpft sich Lea Whitcher halb tot, halb lebendig – quasi als Zombie – kurz nach der Geburt zur Neonatologie, um ihr Neugeborenes zu stillen. Das ist gleichzeitig wahnsinnig lustig und unglaublich schmerzhaft anzusehen. Und genau darin liegt die Qualität ihres Stücks; ihre Figur macht zuweilen lächerliche Dinge, sagt unsympathische Sachen – und doch möchte man sie immer wieder in den Arm nehmen, ihr beistehen und gute Ratschläge zurufen.

Whitcher stellt ihren messerscharfen Beobachtungen aber auch Visionen zur Seite und zeichnet Alternativen zum Status quo. Wie würde ein Mutterschaftsurlaub aussehen, wenn er wirklich als Urlaub gedacht wäre? Was würde passieren, wenn in der utopischen Stadt «Care City» Mütter mehr verdienen würden als CEOs der grössten Unternehmen? Whitcher entwickelt vor den Augen ihres Publikums Welten, die man gerne näher erkunden möchte.

Keine individuelle Befindlichkeit

«Mama Love» ist das erste Stück von Lea Whitcher, das sie nicht nur selbst geschrieben hat und spielt, sondern auch über ihre neu gegründete Theaterformation «Blair Whitcher Projects» gemeinsam mit Kathrin Walde produziert hat. Während der Geburt ihres eigenen Kindes und dann als junge Mutter habe sie sich enorm fremdbestimmt gefühlt, erzählt die Performerin. Ihr Stück sei ein Befreiungsschlag gewesen, sie habe die Kontrolle zurückerobert. Gleichzeitig habe ihr ihre Mutterschaft auch das Vertrauen gegeben, mehr Verantwortung zu übernehmen; als künstlerische Leiterin ihrer Formation ist sie für ihre Mitarbeiter:innen verantwortlich.

«Bildet Banden!», sei eine Botschaft, so Whitcher, die sie den Müttern in ihrem Publikum mitgeben möchte. Das Stück dürfte aber auch jenen Menschen, die bisher kein Kind geboren haben, neue Erkenntnisse und Perspektiven liefern – vielleicht auch in Hinblick auf die Beziehung zur eigenen Mama. Doch eben, das Stück geht weit über individuelle Lebensrealitäten hinaus und zeigt, dass Mutterschaft als gesamtgesellschaftliches Phänomen gelesen werden sollte und nicht als Erfahrung einzelner Frauen.

 

Blair Whitcher Projects: «Mama Love»
DO 29. und FR 30.09.2022 jeweils um 20 Uhr
Südpol, Luzern

 


041 – Das Kulturmagazin September 09/2022

Text: Anna Chudozilov
Bild: Leni O.

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