Mutterland & Vatersprache

Winkel, Luzern, 11.11.2018: Das neugegründete Neon Ensemble feierte mit «Folk Songs» die Premiere seiner ersten Musik- und Tanzinszenierung. Themen wie Nationalismus, Populismus oder Diversität wurden in einer Spannbreite von Volksmusik und Neuer Musik verarbeitet. Damit nahm sich die Truppe viel vor – hat sich der Aufwand gelohnt?

Stockfinster ist's im Winkel, dem Kulturkeller, der früher auch als UG bekannt war. Dann: ein Brummen. Erzeugt von einer E-Gitarre, deren Soundspektrum mit Effektpedalen sowie Impro-Instrumentarien weiter ausgelotet wird. Schnitt. Es folgt ein Volkslied; ein Folk Song. Gesungen von einer hellen, klaren Stimme. Schnitt. Nun das Posaunen-Cello-Duo, welches eine Tanzchoreografie mit zeitgenössischer Musik mitinszeniert. Schnitt. Eine Zeitungsperformance – sieben Performer*innen lesen Zeitungen aus aller Welt und zerknüllen oder zerreissen diese im Verlaufe des Stücks gar. Schnitt. Oder: Ratsch! 

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Schon mit dem Einstieg zur Inszenierung «Folk Songs» bot das frischgegründete Neon Ensemble eine ordentliche Portion an Hirnfutter. Musik, Tanz, Theater, irgendwo zwischen Medienwesen, Weltpolitik, Gesellschaftskritik, verteilt in Häppchen bis Happen; ordentlich bis deftig. Dabei will das Ensemble unter dem Dach der Neuen Musik interdisziplinär arbeiten, Zeitgenössisches ebenso reinnehmen wie andere Musik- sowie Kunstformen. Die sieben Auftretenden haben sich also viel vorgenommen, was manchmal gelingt und manchmal weniger. Über die technischen Qualitäten auf musischer oder tänzerischer Ebene ist man sich schnell einig: Hier wirken Vollprofis. Beeindruckend die stimmlichen und wandelbaren Qualitäten der Sopranistin Viviane Hasler, die in verschiedenen Sprachen – unter anderem hebräisch und rätoromanisch – singt. Und auch ihre Mitmusiker*innen – Lisa Hofer (clo), Anat Nazarathy (fl), Antonio Jiménez Martin (tb), Christopher Moy (g, voc) – sowie die beiden Tänzerinnen Daria Reimann und Anna Virkkunen glänzten, stimmig belichtet durch Jennifer von Känel, welche zudem für das raffinierte Bühnendesign verantwortlich zeichnete.

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Doch hat die Truppe stellenweise zu viel gewollt. 90 Minuten Spiellänge sind ein ordentlicher Brocken, besonders, wenn sie mit toller, aber anspruchsvoller Neuer Musik gefüllt werden. So hätten die (beeindruckenden) Solovorträge Mut zur Kürze vertragen können. Für die Auflockerung wunderschöne Volkslieder oder einen Hendrix-Blues spielen? Nein: Auch diese Stücke beschäftigen den Kopf genügend, sodass man gen Schluss müde wurde. Hinzu kommen zahlreiche, hochspannende Statements, die stellenweise aber zu kryptisch verpackt wurden. Wo genau im Abend der Diversität-Aspekt vorkam, blieb beispielsweise im Nebel der Inszenierung versteckt. Aussagen wie «Folk Music is only for stupid people, people who like Folk Music have to get laid», die im Kontrast zu «Klischees» über Contempary Music gestellt wurden, gefielen hingegen und liessen schmunzeln. Oder: «Warum heisst es Muttersprache, aber Vaterland?»

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Mit Akten analog den beiden zuletzt genannten transportierte das Stück klare Aussagen zu klaren Fragestellungen, die auf der Homepage gestellt wurden. Hierbei kam der Kosmopolit-Bonus geschickt zum Zuge. Wenn die finnische Tänzerin in ihrer Vatersprache ein Märchen rezitiert, dann vom spanisch sprechenden Posaunisten unterbrochen wird, der wiederum zu reden aufhören muss, weil die Flötistin auf Hebräisch reinfährt, ist das spannend und kurios zugleich. Hier und überhaupt bestand aber doch auch der Wunsch nach mehr Orientierung: Was sagen die Menschen auf der Bühne? Welche Message transportiert das jeweilige Stück? Wo ist was verpackt? Das Neon Ensemble stellt interessante, wichtige  Fragen – Fragen, die an das Publikum gebracht und nicht nur dem Interpretationsspielraum überlassen werden sollten. Unter dem Strich ist «Folk Songs» ein ungemein beeindruckendes Werk, das sich zu sehen lohnt. Die angesprochenen Kritikpunkte sind dabei nicht rein negativ zu verstehen, sondern deuten das Potenzial dieser Gruppe an. Wer so viel zu sagen hat, hat bestimmt weitere Ideen in petto. Man freut sich bereits auf das nächste Neon-Stück.