Mut, Freundschaft, Zusammenhalt

Luzerner Theater, 01.03.2020: Die Luzerner Kantorei und das LT haben den Waisenjunge-Klassiker von Charles Dickens zu einem Musical von Kindern für Kinder gemacht: «Oliver» ohne «Twist».

Bilder: Ingo Höhn

Das Premiere-Prozedere zum Schluss dauert gefühlt gleich lange wie die beiden kurzweiligen Aufführungsteile. Während ich mich frage, wie kinderfreundlich sowas ist, wird in dieser dritten Halbzeit zweifellos auf das hingewiesen, was Würdigung verdient: Der Kantorei-Leiter Eberhard Rex hat, weil keine Noten zur Verfügung standen, die ganze Musik kurzerhand selbst geschrieben. Und Dramaturgin Julia Jordà Stoppelhaar hat den umschweifigen Dickens-Roman zersäbelt und einige Fetzen davon zu einem knackigen Abenteuer verklebt.

Das sieht dann so aus (Spoiler-Warnung): Der erwachsene Oliver (Robert Maszl) richtet sich als Ich-Erzähler ans Publikum, um durch die Geschichte zu begleiten. Erste Szene ist die Fütterung im Armenhaus. Oliver will mehr Essen. Er kriegt Schläge und wird als Arbeitskraft versteigert. Oliver flüchtet und wird auf dem Marktplatz von einer Kinderdiebesbande aufgefischt. Er lernt deren erwachsenen Anführer Bill kennen. Die Bande geht auf Streifzug, Oliver wird erwischt. Der gütige Herr Brownlow und Bandenmitglied Nancy setzen sich für den Jungen vor Gericht ein. Oliver kommt bei Brownlow unter. Oliver wird von der Bande gekidnappt. Nancy will Oliver zu Brownlow zurückbringen. Bill jagt ihnen samt Bande hinterher. Nancy kämpft gegen Bill und fällt. Oliver stiftet zum Aufstand an. Gemeinsam können die Kinder ihren falschen Fürsorger überwältigen. Happy End.

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Die bösen Erwachsenen aus dem Roman sind zu zwei Figuren verdichtet: Mr. Bumble steht für das korrupte Armenwesen. Bill steht für das Netzwerk der Kriminellen. Hinzu kommen ein namenloser Richter und der liebe Herr Brownlow. Allesamt sind ebenfalls von Maszl gespielt. Der ulkig-aufgeregte Bumble ist als Armenhaus-Leiter höchst amüsant. Kinderausbeuter Bill kommt erst schnittig und galant daher, dann wird er gfürchig. Und der Richter schaut schnöslig zum Rechten. Während ich die Feinheiten eines Fagin vermisse, höre ich im Publikum Kinder lachen. Der nur kurz erscheinende Brownlow geht neben diesen effektvollen Karikaturen unter und das bedeutet: in diesem Stück gibt es eigentlich nur böse Erwachsene.

Die Aufgabe der Fürsorge und Bestärkung übernimmt Nancy. Ich habe mich vor der Aufführung gefragt, ob ich in Zeiten Greta Thunbergs einen Jungen sehen werde, der sich an den eigenen Stiefelschlaufen aus dem Schlamm zieht. Doch Nancy – bei der Premiere überzeugend gespielt von Maël Lange – ist ebenso sich läuternde Heldin wie in Dickens’ Original. Es ist ihr Wagnis, an Oliver zu glauben und Bill zu verraten. Erst durch ihren beherzten Einsatz kommt Oliver in die Lage, seinem Armenhaus-Trauma in die Augen zu blicken. Denn damals kriegte er Prügel, weil er um mehr Essen bat, doch keines der Kinder kam ihm zur Hilfe. Gegen Bill riskiert er es ein zweites Mal und ist dabei stark genug, die anderen mitzureissen. Wohl wird ihm das in der Version des LTs einfacher gemacht, weil hier die Kinder der Bande alle in Freundschaft verbunden zu sein scheinen – und weil sie in der Masse des Kantorei-Ensembles besser zur Revolution taugen.

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Viel Sprechtext der Handlung liegt in den Liedern und ist dort manchmal schwer verständlich. Doch das ist nicht weiter tragisch. Das Stück lebt von Action (Prügelkreise, Verfolgungsjagd, Akrobatik über die Publikums-Stühle), von Geräuschen (im Takt der Musik springende Stühle, Gabelgeklirr) und von der Körpersprache zwischen Maszl und Lange.

Kultur für Kinder, das ist oft auch die Verpflanzung von moralischen Leitbildern in Köpfe, die diese Verpflanzung nicht bewusst wahrnehmen können. Worum ging es heute? Die Pressetexte des LTs, Stoppelhaars Vorrede, Olivers Gesangstext und auch die Luzerner Zeitung hämmern ein, dass Mut die entscheidende Tugend ist, mit der den Widrigkeiten der Welt getrotzt wird. Dazu gesellt sich Freundschaft, das Band, über das sich Nancy und Oliver Mut machen. Und schliesslich der Zusammenhalt aller Kinder, um gegen den Ausbeuter Bill genug Macht zu vereinen (alles, was sie verlieren können, sind ihre Ketten). Mut, Freundschaft, Zusammenhalt – die Kinderversion von «Freiheit, Gleichheit, Solidarität». Soweit die Parolen.

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Und die Aktualität? Was hat die Kinderausbeutung von 18-so-und-so mit dem heutigen Schweizer Nachwuchs zu tun? Hier bleibt zweierlei zu hoffen: Erstens, dass die erwachsenen Begleitpersonen des jungen Publikums in einer Nachbesprechung deutlich machen werden, dass die erzieherischen Schläge auf der Bühne in der Realität absolut inakzeptabel sind. Und zweitens, dass über die eigenen Landesgrenzen hinausgeschaut wird. 73 Millionen Kinder leiden heute «unter Arbeitsbedingungen, die gefährlich oder ausbeuterisch sind – zum Beispiel in Goldminen in Burkina Faso, als Textilarbeiter*innen in Bangladesch, auf Kakaoplantagen in der Elfenbeinküste oder auf Farmen in Lateinamerika. 48 Prozent der Kinderarbeiter*innen sind unter 12 Jahre [ ] jung.» (unicef.de)

Weitere Aufführungen am 4. (in Altdorf), 8., 15. und 22. März: www.luzernertheater.ch/oliver

P.S. 15 Sekunden Fame für das Corona-Virus: Zu Beginn der Aufführung wurden alle, die in den letzten zwei Wochen in Risikoländern waren oder Grippe-Symptome haben, gebeten, den Raum zu verlassen. Man verwarf lachend die Hände oder schüttelte den Kopf. Ein kleines Mädchen hustete. Während dem Stück nieste Mr. Bumble in die Grütze der Kinder. Und bei den Verdankungen war der gesunde Bühnenbildner leider abwesend, dafür kürzlich in Norditalien anwesend.

P.P.S. Verdankt wurde auch der Hauptsponsor Bucherer AG. Im Dickens-Roman werden vor allem Taschentücher geklaut. Bei der LT-Inszenierung hatte hingegen eine goldene Taschenuhr viel Prominenz.