«Musik ist extrem manipulativ»

Der ukrainische Komponist Oleh Shupdeiko, bekannt unter dem Namen Heinali, begann vor rund 20 Jahren Musik zu machen. Sein Album «Kyiv Eternal» enthält Field Recordings, die in Kyiv vor der russischen Invasion aufgenommen wurden. Ein Gespräch über Kultur als Kriegswaffe und die Macht subjektiver Erfahrung.

Oleh Shupdeiko, wie kamst du zu elektronischer Musik?

Ich habe keine musikalische Ausbildung und nie ernsthaft Unterricht genommen. Als Teenager, als ich Bands wie Coil, Current 93 oder Musiker:innen aus der japanischen Noise-Szene hörte, wurde mir klar, dass man nicht unbedingt eine Ausbildung braucht, um Musik zu komponieren. Ausserdem interessierte ich mich damals für Informatik und dachte darüber nach, Programmierer zu werden. Da ich schon früh mit Computersoftware vertraut war, fiel es mir leicht, elektronische Musik zu machen.

In den letzten fünf Jahren habe ich dann den modularen Synthesizer für mich entdeckt, ein Instrument, das aus vielen unterschiedlichen Modulen besteht, die zur Erzeugung elektronischer Klänge verwendet werden. Dieses Instrument ist perfekt für mich.

Inwiefern?

Mich berauscht das Gefühl der Entdeckung, wenn man mit Soft- oder Hardware herumspielt und unerwartete Ergebnisse erhält. In den letzten Jahren habe ich mich sehr für alte und mittelalterliche Musik interessiert, insbesondere für die gotische Polyphonie. Als ich anfing, mein modulares System zu bauen, fand ich heraus, dass ich eine klangliche Vielstimmigkeit damit erzeugen kann. Da machte es bei mir Klick.

Geht es dir dabei um die Erweiterung der Klangebenen, um die Abgabe von Kontrolle?

Auf jeden Fall. Modulare Synthesizer sind nicht wahnsinnig präzise und darum eher ungeeignet für die Komposition, aber sehr gut für die Improvisation. Sie sind ideal als Zufallsgeneratoren, das hat mich von Anfang an interessiert. Es gibt dieses deutsche Wort, «Begeisterung». Es bedeutet, «von einem Geist besessen» zu sein, aber in einem positiven Sinne. Manchmal habe ich das Gefühl, der Synthesizer sei besessen und erlange eine eigene Subjektivität. Als Musiker:in improvisierst du mit dieser Maschine, als ob sie ein eigenständiges Wesen wäre.

Du arbeitest oft mit Spoken Word. Was können Worte ausdrücken, was Musik nicht kann?

Worte können sich auf Dinge ausserhalb ihrer selbst beziehen. Musik hingegen ist selbstreferenziell. Und darin besteht eines ihrer Probleme: Sie lässt sich für politische Zwecke leicht vereinnahmen. Bei Worten ist dies schwieriger, da sie präziser sind. Musik ist extrem manipulativ, da sie Emotionen hervorruft. Entsprechend kann man dieselben musikalischen Fragmente und Kompositionen für unterschiedliche Zwecke verwenden, wie wir dies in aktuellen Reels auf Instagram oder TikTok erleben.

Manipulation ist eher negativ konnotiert. Gibt es eine positive Besetzung der Manipulation, die du für dich nutzt?

Vielleicht kann man das neutralere Wort «Modulation» verwenden. Mein letztes Album «Kyiv Eternal» handelt von meiner friedlichen Zeit in Kyiv vor dem Krieg. Es nimmt Einfluss auf Gefühle, aber nicht auf negative Art und Weise: Das Album versucht, Nostalgie zu erzeugen mit dem Ziel, Hoffnung für die Zukunft der Ukraine zu schaffen.

Für dieses Album habe ich Field Recordings von Kyiv verwendet, die ich während der letzten zehn Jahre vor der russischen Invasion gemacht habe. Dazu kamen Fragmente aus unveröffentlichten Kompositionen, die während dieser Zeit entstanden sind. Sie erzählen eine persönliche Geschichte. Es geht nicht um die reale Erfahrung des Lebens in Kyiv, sondern darum, wie ich mich an die Zeit erinnere, bevor der Krieg ausbrach.

Inwiefern beeinflusst der Krieg deine Arbeit?

Das Album «Kyiv Eternal» ist weit weg von meiner sonstigen musikalischen Herangehensweise. Es war nicht mein Wunsch, ein Album über Kyiv zu machen. Es war die traumatische Erfahrung, die mich dazu geführt hat. So konnte ich verstehen, was mir passiert ist, und diese Erfahrung teilen.

Wie hast du den Kriegsausbruch erlebt?

Den ersten Monat des Krieges verbrachte ich in Lviv. Das ist eine Stadt im westlichen Teil der Ukraine, die zu diesem Zeitpunkt sicherer war. Nachdem die Schlacht um Kyiv vorbei war, kehrte ich in die Hauptstadt zurück. Ich hatte das Gefühl, dass die Stadt lebendig sei.

Hat Musik oder Kunst eine besondere Aufgabe in Kriegszeiten oder sollte sie davon gerade befreit sein? Oder anders gefragt: Wo verortest du das Politische in der Musik?

«Kyiv Eternal» ist eine politische Platte, aber ich habe absichtlich Ambient als Genre verwendet, weil es um einiges schwieriger ist, dieses zuzuordnen, es ist wie ein Aroma, wie ein Duft in einem Raum. Ich wollte, dass das Politische durch die Risse der persönlichen Geschichten sichtbar wird, und nicht andersherum.

Du verortest das Politische also eher in der subjektiven Erfahrung?

Ich interessiere mich für persönliche Geschichten aus dem Leben der Menschen und nicht für die grossen Erzählungen, die jedes politische Regime versucht, über ihr Leben zu legen.

Es gibt aktuell in Europa ein wachsendes Interesse an ukrainischen Künstler:innen und auf der anderen Seite die Tendenz zum Boykott russischer Künstler:innen. Wie stehst du zu dieser Tendenz?

Es gibt ein wachsendes Interesse, definitiv. Aber das Problem ist, dass die ukrainische im Vergleich zur russischen Kultur immer noch stark unterrepräsentiert ist. Ich bin für den Boykott der russischen Kultur während des Krieges. Weil sie als Waffe eingesetzt wird, um das Bild eines demokratischen, kultivierten Landes zu erzeugen, das zu den Dingen, die es in der Ukraine tatsächlich tut, nicht fähig ist. Es sind taktische Entscheidungen. Eines der Probleme, warum die russische Erzählung über die sogenannten brüderlichen Nationen immer noch Bestand hat, ist, dass wir nicht viel getan haben, um die ukrainische Kultur zu exportieren.

Als ich 2016 in London lebte, war es schwierig zu erklären, was die Ukraine ist, weil die Leute nicht wirklich eine Verbindung zur ukrainischen Kultur hatten. Sie wussten nichts über unsere Komponist:innen, unsere Künstler:innen, unsere Schriftsteller:innen, aber jeder kannte Schostakowitsch, Tschaikowski, Tschechow, Dostojewski.

Für mich ist es manchmal schwierig, all das zu verstehen. Ich denke manchmal: Warum können wir nicht ins Theater gehen und ein Tschechow-Stück sehen, das als Stück gerade offen und ambivalent ist?

Während des Krieges wird die Kultur leider zur Waffe, ob man das will oder nicht. Es ist im Grunde eine Kultur im Krieg und man müsste Dinge tun, die in friedlichen Zeiten absolut inakzeptabel wären.

Zum Schluss eine utopische Frage. Hat Musik oder Kunst die Kraft, einen Krieg zu beenden?

Ich denke, sie hat die Macht, grosse Veränderungen herbeizuführen. Aber es ist eine weiche Macht und eine, die vielleicht erst in zehn oder zwanzig Jahren spürbar werden wird.


Oleh Shupdeiko, bekannt unter dem Namen Heinali, ist ein ukrainischer Komponist und Klangkünstler. Er ist auf elektronische Musik spezialisiert, komponiert für Filme, Video Games und Performances.

Heinali
SA 22. Juli, 16 Uhr
Setpember Vin & Vinyl, Luzern


 

041 – Das Kulturmagazin
Juli/August 07+08/2023

Interview: Anja Nora Schulthess

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