Morden um des Morden Willen

Theaterpavillon, Luzern, 10.01.2020: Ein Schiffscontainer steht im Luzerner Theaterpavillon – es ist das Bühnenbild der neuen «Orest»-Produktion des Theater Nawal. Vieles gelingt dem Erwachsenenensemble – doch die Dringlichkeit geht der Inszenierung ab.

Bilder: Ingo Höhn

Das Theater Nawal reist nach Griechenland. Im übertragenen Sinn, natürlich. Ihre neue Produktion «Orest» spielt in der Zeit nach dem Trojanischen Krieg. Agamemnon, König von Argos, führte die seinen zum Sieg, hatte aber dafür seine Tochter geopfert. Für seine Frau Klytaimnestra ein Kindsmord, den sie ihm trotz ruhmreicher Rückkehr nicht verzeihen konnte. So erschlug sie Agamemnon. Ihre Kinder Elektra und Orest wollen sich in der Folge an ihrer Mutter (und deren neuem Liebhaber) rächen. Also reiht sich unter grossem Ehren- und Eifersuchtsgehabe Mord an Mord an Mord, was alle Beteiligten immer tiefer ins Unglück stürzt – wie man das aus griechischen Dramen eben kennt.

Schuld und Pathos

Die Fassung stammt vom deutschen Autor John von Düffel. Dessen Bearbeitungen klassischer Stücke fanden auch am Luzerner Theater bereits Verwendung (beispielsweise «Robin Hood» oder «Ödipus Stadt»). In «Orest» präsentiert er eine pathetische, sperrige, dem Genitiv verschriebene Sprache (mit Satzfragmenten wie: « ... von meines Gatten Eifersucht gerichtet!»). Und die Inszenierung huldigt diesem Pathos. Man bricht nie damit, spielt nicht mit dem Text, bricht nie aus. Es wird nie komisch, nie kurios – das Stück bleibt schwer verdaulich, Lacher im Publikum bleiben aus.

Orest – Theater Nawal

Das Hauptmotiv des Dramas ist die Frage nach Schuld. Sämtliche Figuren haben nämlich eines gemeinsam: Keine von ihnen erfüllt die Held*innen-Funktion, alle sind getrieben von Wut, Trauer und Rachegelüsten – und alle haben Mordgedanken, wenn sie denn nicht schon getötet haben. In diesen Meuchelfantasien suchen sie Erlösung, die aber niemand von ihnen finden wird. Und sie alle schieben die Schuld entweder einander zu oder dann auf die Götter – Verantwortung übernehmen will niemand.

Fünf Monate Vorbereitung

Der Stoff unterhält, die zweistündige Inszenierung ist kurzweilig, die Textfassung von Düffels führt trotz der komplexen Personenkonstellationen bestens durch den Zweiakter. Dazu trägt auch das Bühnenbild bei: Für das Stück wurde – wie auch immer – ein riesiger Schiffscontainer in den Theaterpavillon geschafft, der als Haus, Schiff und Vorhang gleichzeitig fungiert. Sonst stehen kaum Requisiten im Einsatz, die Schauspieler*innen arbeiten vor allem mit sich und dem Raum. Und das Erwachsenenensemble des Theater Nawal zeigt bestens aufgelegt, die fünf Monate dauernden Vorbereitungen haben sich offensichtlich gelohnt. Vor allem Vera Lichtsteiner überzeugt als Elektra, auch Susanne Meier Richli portraitiert die Mutter Klytaimnestra äusserst nuancenreich.

Vera Lichtsteiner als Elektra

Passend eingesetzt wird auch die Musik. Christian Winikers und Christov Rollas Gitarrenspiel ist bestens aufeinander und auf das Stück abgestimmt; sie untermalen die Szenen sanft, aber wirkungsvoll. Sie sind denn auch die einzigen, die sich der Ernsthaftigkeit der Inszenierung ein wenig widersetzen. Sie bleiben gelassen, wenn auf der Bühne Mütter, Väter und Kinder um die Wette sterben. Christov Rolla isst da auch einfach mal eine Mandarine. Was sein muss, muss sein.

Prädikat «zeitlos» – aber warum?

Und doch: Eine griechische Tragödie zu zeigen, ist eben auch tückisch. So verpasst es die Inszenierung, die Frage zu beantworten, warum im Jahr 2020 ein Jahrtausende alter – und unzählige Male aufgeführter – Stoff auf die Bühne gebracht wird. Das Argument, das Stück sei zeitlos, verfängt nicht. Man muss schon zeigen, woraus diese Zeitlosigkeit besteht und das klappt nur über Gegenwartsbezüge.

Chor in Orest

Es gibt einzelne Andeutungen an unsere Zeit: So tragen die meisten Schauspielenden moderne Sneaker. Oder dann sind da die gelben Westen, welche der Chor übergestreift hat; eine Anspielung auf die Gilets Jaunes? Aber falls ja: Wie? Und warum? Das Stück lässt die Zuschauenden damit alleine. Die Funken der Gegenwart bleiben unkommentiert und reichen nicht aus, das Zertifikat «zeitlos» zu rechtfertigen. Da hätte man dem antiken Stoff durchaus mutiger entgegentreten und – anders als die scheiternden Figuren – Haltung zeigen dürfen.

Orest
Bis SA 8. Februar
Theater Pavillon, Luzern

Spiel: Anna Stammler, Carolina Aregger, Andrea Kammermann, Vera Lichtsteiner, Carolina Aregger, Florian Fischer, Susanne Meier Richli, Marcel Grüter, Anna Stammler, Philipp Arnet

Chor: Carolin Andergassen, Andrea Bieri, Dinah Knuchel, Denise Kohler-Kull, Sarah Kohler, Elinor Wyser

Musik: Christian Winiker, Christov Rolla; Regie: Reto Ambauen, Ausstattung: Bernadette Meier; Dramaturgie: Elsbet Saurer; Sprachregie: Silvia Planzer; Lichtdesign: Bruno Gisler; Licht: Tobias Hoenger, Pascal Mühlemann; Grafik: Simone Eggstein; Produktionsleitung: Susanna Bertschmann