Meine geniale Freundin 1-4: Es ist nicht vorbei

Die britische Regisseurin Lily Sykes bringt Elena Ferrantes «Meine geniale Freundin» auf die Bühne. Drei Stunden Theater – fesselnd und schreiend ungerecht.

Bilder: Ingo Höhn

Im Rione, dem heruntergekommenen Armenquartier am Rande Neapels, war das Leben der 50er-Jahre hart. Politisch instabil, den Krieg noch im Nacken, die Mafia auf dem Vormarsch, die Demokratie in den Kinderschuhen. Dort beginnt die neue Inszenierung des Luzerner Theaters, die auf den Bestseller-Romanen von Elena Ferrante basiert: «Meine geniale Freundin 1-4», im Original «L'amica geniale».

Auf über 2 000 Seiten wird die Geschichte einer Mädchenfreundschaft erzählt: Raffaella Cerulla, genannt Lila (Olivia Gräser), lernt beim Puppenspiel Elena Greco, genannt Lenù, kennen. Lenù ist einerseits Protagonistin (Sophie Hottinger), der man beim Erwachsenwerden zusieht, andererseits Erzählerin der Geschichte (Martina Spitzer). Aus den 50ern führt uns die britische Regisseurin Lily Sykes durch die Jahrzehnte, mitten in mafiöse Geschäfte und hinein in düstere Fabriken und familiäre Verstrickungen. Wie in einem One-Shot-Film werden Szenen fliegend gewechselt, Jahre überflogen – angezeigt durch Kostüm- und Kulissenwechsel – spielend verschiebt sich der Ort des Geschehens von Neapel nach Mailand, dann nach Rom und zurück.

Die Inszenierung lebt aber auch von der Musik. Das Luzerner Sinfonieorchester unter der Leitung der Konzertmeisterin Lisa Schatzman untermalt die Szenen genauso stimmig wie der Gesang der Mezzosopranistin Lara Liechti.

Die Männer prägen

Die fehlende Solidarität unter Frauen beschäftigte die Regisseurin, wie dem Programmheft zu entnehmen ist. Die Freundschaft der Protagonistinnen ist durchzogen von Missgunst und Neid, von Vergleichen miteinander, von Selbstzweifeln, von unterschiedlichen Werdegängen. Lenù wird nach ihrem Studium Autorin, Lila heiratet bereits mit 16 und steigt ins Unternehmertum ein. Auf beide warten Hochs und Tiefs, Klassenkämpfe, alte und neue Liebschaften – verpackt in drei Stunden Theater, immer fesselnd, immer den Atem raubend.

Meine geniale Freundin 1-4

Und immer sind da Männer. Die einen versprechen die Liebe und entpuppen sich als Gewalttäter. Die anderen versprechen den gesellschaftlichen Umsturz, die Gleichheit, gefallen sich in der Rolle des Frauenförderers und Intellektuellen – bis die Frau zur Gefahr für die eigene Karriere wird.

Man will kaum glauben, dass sie nach diesem Stück tatsächlich mit dem Prädikat «Machos» davonkommen sollen – etwa auf «zentralplus». Wie laut soll denn ein Stück Missbrauch, soziale Ungleichheit, und ja: #metoo schreien, bis es unmissverständlich gehört wird?

Es geht auch nicht bloss um irgendein fernes Italien der verstaubten 60er-Jahre, nicht um mafiöse, übermännliche Unterschichts-Gesellschaften bequem weit weg von uns. Es geht um häusliche Gewalt, es geht um Täter-Opfer-Umkehr durch Sprache, um ungleiche Karrierechancen für Frauen, insbesondere Mütter, soziale Unterdrückung, um das Kleinmachen von Haus- und Care-Arbeit, um all die Themen des Frauenstreiks vor gerade einmal einem Jahr, der vor den Türen dieses Theaterhauses stattfand.

Meine geniale Freundin 1-4

Von der Kritik ausgelassen wird auch der Kulturbetrieb nicht. Lenù wird als Autorin zuerst von der männlichen Presse verrissen – zu anzüglich –, später als «hart, fast männlich» gelobt – als Frau kann man keine Literatur. Auch die Kultur pflegt Systeme, in denen Frauen nach wie vor einen schwereren Stand haben, in dem Männer die Massstäbe setzen und weibliche Vorbilder fehlen. Ironischerweise bestätigt dies ein Blick auf Olivia Gräsers Webseite. Die 41-Jährige, die Lila so bestechend darstellt, schreibt dort in ihrer Vita: «Sebastian Baumgarten, Michael Thalheimer, Andreas Kriegenburg, Dimiter Gotscheff, Martin Wuttke. Die Zusammenarbeit mit diesen Regisseuren prägt mich bis heute.» Weiblich ungeprägt.

Wie beim Schulstück

Der Applaus des Corona-bedingt geradezu winzigen Theaterpublikum klingt fast traurig, wie nach einem Schulstück, wenn die Eltern höflich klatschen, aber gleichzeitig bestimmt signalisieren, man wolle jetzt auch bald einmal nach Hause. Man vermisst die Standing Ovation, die Applauswellen, die Zurufe aus den Rängen – sie wären hochverdient.

Meine geniale Freundin 1-4

Schade auch, dass im Publikum primär graue Haare zu sehen sind. Natürlich werden Stammkarten-Besitzer*innen in Zeiten des begrenzten Platzangebots bevorzugt. Doch wünscht man sich, mehr Junge in dieser Inszenierung sitzen zu sehen. Schüler*innen, Studierende, junge Eltern, euch sei gesagt: Mit etwas Glück ergattert ihr Restkarten an der Abendkasse! Geht und lasst das Stück auf euch wirken – keine Angst, wenn’s sich etwas unangenehm anfühlt: das muss so sein.

Meine geniale Freundin 1–4
Bis 4. Februar 2021
Luzerner Theater

Inszenierung: Lily Sykes; Bühne: Jelena Nagorni; Kostüme: Jelena Miletić; Sounddesign: Arvild J. Baud; Musikalische Leitung: Lisa Schatzman; Licht: Marc Hostettler; Videodesign: Rebecca Stofer; Dramaturgie: Irina Müller

Spiel: Martina Spitzer, Sophie Hottinger, Olivia Gräser, Claudius Körber, Milian Zerzawy, Lara Liechti / Julia Siegwart, Melis Mayaoglu, Cosma Li Dick

Musik: Luzerner Sinfonieorchester