Mare will mehr

Andrea Štakas im letzten Jahr uraufgeführter Film «Mare» wurde an den Solothurner Filmtagen mit dem Prix de Soleur 2021 ausgezeichnet. Wie schon in «Das Fräulein» und «Cure» spielt die herausragende Marija Skaričić eine tragende Rolle.

Bild: zVg

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«Was für eine katastrophale Kameraführung», kommentiert einer unter dem Pseudonym Marques irgendwo im Internet den dritten Langspielfilm der in Luzern geborenen Regisseurin Andrea Štaka. Ich kann verstehen, wie er zu dem Urteil kommt: Man muss sich einlassen wollen darauf, wie der Film fast durchgehend ganz nah dranbleibt an Mare, der titelgebenden Protagonistin. Man muss sich begeistern können für die Ästhetik, die durch das analoge Arbeiten mit Super-16-Millimeter-Film entsteht. Das ist nicht Hochglanzwood.

Doch Marques sieht nicht, was Jurys an diversen Festivals gesehen haben, wo der Film mehrfach ausgezeichnet wurde; zuletzt an den Solothurner Filmtagen mit dem Prix de Soleur 2021. Denn die Kameraführung dient nicht zuletzt der grossartigen Hauptdarstellerin Marija Škaričić. In ihrem Gesicht passiert so viel, ohne dass sie gross Worte verliert, ihr ganzer Körper erzählt. Eingefangen wird das von Kameramann Erol Zubčević in betörenden Bildern, die zwischen sanfter Nostalgie und hartem Realismus oszillieren – wie es das Leben von Mare gerade tut.

Mit ihrer Familie lebt sie direkt neben dem Flughafen Dubrovnik. Doch all der Glamour, den nicht zuletzt der Dreh der «Game of Thrones» Saga in die Stadt gebracht hat, ist nur ein kurzer Nebensatz. Statt auf dem Eisernen Thron sitzt Mare auf dem Klo, ständig läuft jemand rein und raus, sie schimpft mit ihrem Mann, der stinkt nach der Arbeit. Alltag. Ihre drei Kinder sind allesamt Teenager, hängen in unterschiedlichen Positionen in dieser wundersamen Schlaufe zwischen Kindsein und Frau oder eben Mann. Das ist nicht selten witzig, doch insbesondere Mares Beziehung zum ältesten Sohn Gabriel führt immer wieder auch vor Augen, wie schmerzhaft der Prozess zuweilen ist. Etwa als Mare beim besten Willen ihrem Sohn nicht erklären kann, warum genau er die Schule abschliessen soll, die sie nicht abgeschlossen hat, warum er nicht rauchen soll, obwohl sie es doch auch tut.

Regisseurin Andrea Štaka erzählt Mares Geschichte entlang einer Affäre, die ihre Protagonistin mit dem polnischen Arbeiter Pjotr eingeht, der eine Weile auf dem Flughafen stationiert ist. Mare lässt sich auf mehr als Sex ein, erschafft sich damit etwas, das nur ihr alleine gehört. Denn wie ihr Sohn Gabriel steht auch sie an einer Schwelle; ihr Leben war über Jahre vom Muttersein geprägt, nun tut sich langsam wieder Raum auf, den sie gestalten kann und will. Sie findet sich neu jenseits ihrer Elternrolle. Eine Erzählung, die dem einen oder anderen Marques vielleicht zu unstet, zu intim ist – genauso eben wie die Kameraführung.