Märchenhafter Wahnsinn

Luzerner Theater, 06.12.2018: Was geschieht mit einem Menschen, der urplötzlich von seiner düsteren Vergangenheit eingeholt wird? Wie viele Wahrheiten gibt es – und kann man sagen, dass eine davon «richtiger» ist als die anderen? «Der Sandmann» widmet sich dem Unbewussten, den Urängsten des Menschen. Aufgepasst: nichts für schwache Nerven.

Titelbild: Ingo Höhn, Luzerner Theater

Tick, tack. Drei schaurige Gestalten hocken um einen Tisch, glotzen sich gegenseitig an, glotzen das Publikum mit grossen Augen an. Für eine lange Zeit. Im Hintergrund eine tickende Uhr. Präsentiert wird eine märchenhaft-gruselige Traumwelt, die auf den ersten Blick etwa an «Alice im Wunderland» erinnert. Aber von wegen Wunderland! Was die Zuschauer*innen sehen, ist das Innenleben des Protagonisten, sind seine verzerrten Kindheitserinnerungen und grössten Ängste.

Tick, tack, tick, tack. Die Uhr tickt schneller, als eine vierte Gestalt polternd die Bühne betritt: der böse Sandmann, der unartigen Kindern Sand in die Augen wirft und sie dann fortnimmt, um ihnen von Vögeln die Augen auspicken zu lassen.

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Glupschaugen, wohin man schaut. Foto: Ingo Höhn, Luzerner Theater

E.T.A. Hoffmanns Schauermärchen «Der Sandmann» aus dem Jahr 1815 handelt vom jungen Studenten Nathanael, der von seinen Kindheitsängsten heimgesucht wird. Als Junge verbindet er den angsteinflössenden Freund des Vaters, Coppelius, mit der Figur des Sandmanns. Jahre später, als der Wetterglashändler Coppola  bei ihm auftaucht, glaubt Nathanael in ihm Coppelius wiederzuerkennen und meint, von einer bösen Macht verfolgt zu werden. Seine besonnene Verlobte Clara wirft ihm wiederum vor, er lasse Phantome in seinem Innern Gewalt über sich ausüben; die Verwechslung der beiden sei rein zufällig. Doch dann verliebt sich Nathanael in Olimpia, eine lebensgrosse Holzpuppe, die er durch ein von Coppola gekauftes Wetterglas beobachtet. Je länger er diese ansieht, desto lebendiger erscheint sie ihm. So schafft sich Nathanael seine eigene Wirklichkeit, die immer mehr von einer neutralen Weltsicht wegdriftet und ihn schlussendlich in den Wahnsinn treibt.

Das Ticken verstummt, Licht geht an, und auf die Bühne treten neu fünf Hauptdarsteller*innen, diesmal ohne zerfetzte Kostüme, ohne glubschäugige Fratzen. Menschen in Zivilkleidung, die dem Publikum zugewandt alle ein und dasselbe erzählen: die Geschichte Nathanaels.

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Die Geschichte Nathanels mit all ihren Wirrungen und Windungen. Foto: Ingo Höhn, Luzerner Theater

Dann kippt die Stimmung wieder, zurück sind die gruseligen Figuren, die in Zeitlupentempo über die Bühne taumeln und skurrile Bilder entstehen lassen. Zuständig für Bühne und Kostüme ist Pia Greven, die mit dem Regisseur Nicolas Charaux schon seit Jahren eng zusammenarbeitet. Die beiden haben international schon mehrere Stücke inszeniert.

Charaux verwendet im «Sandmann» eine ganz eigene Erzählform, indem er den innerlich zerrissenen und traumatisierten, typisch romantischen Protagonisten einerseits von aussen, andererseits von innen her darstellt. Ebenfalls stehen sich abwechselnd Vergangenheit und Gegenwart gegenüber, bis der Wahnsinn aus dem Unterbewusstsein Nathanaels in seine Erzählung schleicht.

Das Stück enthält Symbole sowie Metaphern, welche beispielsweise an das «Black Box»-Modell erinnern,  das in der Verhaltenspsychologie für alle unbekannten kognitiven Prozesse steht. Mit der Vernichtung von zwei grossen, schnuckeligen Hasen wird wiederum fassbar, dass es um Nathanaels Kindheit geschehen ist.

Der Sandmann
Bald ist's um sie geschehen: um den Hasen und um Nathanaels Kindheit. Foto: Ingo Höhn, Luzerner Theater

Hierbei wird vor allem mit Stille und Langsamkeit gearbeitet. Manchmal fühlt sich dies unerträglich an, wie beim Anstehen in einer ellenlangen Warteschlange im Sommer. Als Zuschauer*in fängt man dann an, darüber nachzudenken, wie wohl die eigene Geschichte auf die Bühne gebracht würde. Ob die eigenen Gespenster genauso grosse, starrende Augen besitzen würden? Und welche Figur stellte für einen selbst wohl den Inbegriff des Bösen dar? Weiter grübelt man über die grundlegendsten Fragen, die der «Sandmann» aufwirft und deren Antworten dem Publikum überlassen werden: Gibt es eine objektive Wirklichkeit, die für alle zugänglich ist, oder konstruiert sich jede*r seine eigene, so wie es Nathanael tut? Sind Coppelius und Coppola nun zwei verschiedene Personen und wird Nathanael tatsächlich vom Bösen verfolgt? Oder ist das Böse vielmehr in ihm selbst, ein blosses Hirngespinst?

Oder – ganz anders – man hält die ungewohnte Stille irgendwann nicht mehr aus, kneift die Augen zusammen und taucht für einen kleinen Moment lang ab in die eigene, (schauer)märchenhafte Welt seiner Erinnerungen, Ängste und Träume… Und wird dann sofort wieder herausgerissen, als die Wesen auf der Bühne das Stück mit einem letzten, gewaltigen Auftritt schliessen. Tick, tack.

 

Der Sandmann
Noch bis am SA 19. Januar 2019
Luzerner Theater

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