Luzern verkommt zur Kinowüste – und jetzt?

Die traditionsreichen Stadtluzerner Kinos Capitol und Moderne schliessen auf Ende Jahr. Was bedeutet das Kinosterben für Luzern? Und für das Bourbaki als letzte Bastion?

Sieben Leinwände und zwei Drittel aller Kinosessel gehen in der Stadt Luzern auf einen Schlag verloren: Ende 2022 schliessen die Kinos Capitol mit 861 Plätzen und Moderne mit 377 Sitzen – der genaue Termin ist noch unklar. Klar ist hingegen: Das einst breite Kinoangebot in der Stadt schrumpft auf gerade mal noch einen Standort.
 

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Illustration: Olivier Samter


Capitol und Moderne – die zwei prägenden Namen reihen sich ein in die Ahnengalerie der verschwundenen Luzerner Kinos: Rex, Limelight, Atelier, Piccolo, Madeleine, ABC, Broadway (Kriens) … Nicht nur die Namen, auch die Vielfalt geht verloren. Die verbliebenen Kinos Bourbaki und Stattkino zeigen in ihren fünf Sälen vor allem Arthouse- und Independent-Filme. Die Zeit der grossen Einzelkinos in der Innenstadt ist vorbei. Wer Blockbuster mag, muss künftig in die Multiplex-Kinos nach Emmenbrücke (8 Säle) oder Ebikon (12 Säle). Die wichtigsten Fragen und Antworten zum Luzerner Kinosterben.

Was sagt es über eine Stadt aus, wenn Kinos aus dem Zentrum verschwinden?
«Dass man kein Interesse daran hat, für seine Einwohner:innen ein funktionierendes Kulturangebot aufrechtzuerhalten. Warum nicht das Gebäude kaufen und es Kulturliebhaber:innen zur Verfügung stellen, die dort vielleicht als Verein Filme zeigen, Diskussionen und Partys veranstalten könnten? Üblicherweise bekommen die umliegenden Restaurants und Bars Kinoschliessungen ebenfalls zu spüren. Die Konsequenz: Je weniger Kulturangebote es im Zentrum gibt, desto unattraktiver ist eine Stadt, weil die Geräuschkulisse der Nacht aus Autolärm statt fröhlichem Stimmengewirr besteht.» – Die Exil-Luzernerin Denise Bucher ist Filmkritikerin bei der NZZ am Sonntag und Präsidentin des Schweizerischen Verbands der Filmjournalist:innen.

«Ein-Saal-Kinos sind heute kaum noch rentabel, der ‹Tod› des Moderne kam für mich nicht überraschend. Auch Multiplexkinos müssen ausbauen, werden mit Gamezones und Bowlingbahnen zu Vergnügungstempeln, bei denen der eigentliche Film nur noch Nebensache ist. Solche Anlagen brauchen Platz, den es im Stadtzentrum von Luzern nun mal nicht mehr gibt. Für mich als Film- und Kinofan ist das ein Verlust. Mir wird die familiäre Kinoatmosphäre enorm fehlen.» – Christian Bucher hat als Journalist bei zentralplus die Schliessung von Capitol und Moderne publik gemacht. Er hat acht Jahre lang in den betroffenen Kinos gearbeitet.

Haben Kinos noch eine Chance gegen Filme und Serien zu Hause?
«Das Kino als Institution wird kaum verschwinden, einzelne Häuser hingegen weiterhin. Vielleicht müssten Kinos, um zu überleben, wieder zu Filmpalästen werden. Zu Orten, die ein Hauch von Luxus umgibt, die man besucht wie das Theater oder die Oper. Die viel komfortabler sind als die Kinos von heute, was höhere Eintrittspreise rechtfertigen würde. Falls Arthouse-Kinos eingehen sollten, ist es – hoffentlich – nur eine Frage der Zeit, bis neue private Filmclubs entstehen, die im Laufe der Zeit wieder zu öffentlichen Kinos werden. Luzern wäre bereits reif dafür. So praktisch das Streaming ist, es ersetzt nicht das Erlebnis, sich mit Fremden im dunklen Saal einer Geschichte hinzugeben und nachher bei einem Bier über das Gesehene zu diskutieren.» – Denise Bucher
 

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Illustration: Olivier Samter

 

Hat die Kinokrise auch mit Corona zu tun?
Die vergangenen zwei Jahre waren geprägt von Lockdown, Zuschauer:innenbeschränkung, Maskenpflicht, Zertifikaten – selbstredend wirkt sich das negativ aus. Die Kinoindustrie habe weltweit gelitten, heisst es in der Jahresstatistik 2021 des Dachverbands ProCinema. «Verschärfte Massnahmen lösten kurzzeitige Lockerungen ab und verunsicherten die Branche, aber genauso das Publikum. Durch Verschiebungen der Starttermine kam der Fluss der Neustarts immer wieder ins Stocken und verhinderte für viele Filme eine solide Auswertung.» 

Zwar haben die Besucher:innenzahlen in den Kinos 2021 im Vergleich zum desaströsen 2020 wieder leicht angezogen, liegen aber immer noch 60 Prozent (!) unter dem Vor-Pandemie-Niveau. Selbst Blockbuster wie der neue Bond-Film konnten das Kinojahr nicht retten. 

Die Swisscom-Tochterfirma blue Entertainment begründet die Schliessung von Capitol und Moderne unter anderem mit der Pandemie: «Der Mietvertrag wird aus wirtschaftlichen Gründen, wozu auch Corona zählt, nicht verlängert. Der Kinomarkt ist derzeit enorm unter Druck, was wir stark spüren», sagt Olivia Willi, Sprecherin von blue Entertainment, die auch das Maxx in Emmenbrücke betreibt. 

Ist es nicht paradox? Es gibt immer mehr Leinwände für immer weniger Besucher:innen.
Ja, das ist es. Trotz Kinoschliessungen und immer weniger Zuschauer:innen gibts laufend neue Kinos – etwa die 12 Säle im 2017 eröffneten Multiplex von Pathé bei der Mall of Switzerland. Insgesamt zählt die Schweiz 605 Leinwände, das sind über 200 mehr als noch vor 30 Jahren. Die Anzahl Kinositze ist mit aktuell knapp 99 000 relativ stabil geblieben.
 

 

Luzern verpasst sogar den Schweizer Durchschnitt und verkommt zur Kinowüste.

 

Der Trend: Die grossen Einzelkinos in der Innenstadt verschwinden – die Multiplexe mit mehr als acht Leinwänden ausserhalb der Zentren nehmen zu. 2000 gab es erst vier Multiplexe, heute sind es deren 17. Das ergibt eine paradoxe Situation: Es gibt immer mehr Filme auf mehr Leinwänden für immer weniger Zuschauer:innen. Quelle: Jahresstatistik 2021 ProCinema, Bundesamt für Statistik

Warum ist Luzern keine Kinostadt?
«Gibt es in der Schweiz überhaupt eine Kinostadt? Zürich vielleicht, da schlägt das Filmherz mit den gros-
sen ansässigen Produktionsfirmen und dem Zurich Film Festival. In der Luzerner Kultur spielt das Kino eine kleinere Rolle – was für eine sogenannte Kulturstadt ziemlich schade ist. Aber Kinoschliessungen sind kein Luzerner Phänomen. In den vergangenen Jahren musste beispielsweise auch Bern Federn lassen. Letztlich spielen viele Faktoren mit: Mietpreise für die Liegenschaften, wegbrechende Zuschauer:innenzahlen, eine Fülle an Streaming-Angeboten, das Filmangebot selber und die Ticketpreise. Die Pandemie war auch nicht gerade hilfreich.» – Christian Bucher

Wie steht Luzern in Sachen Kino im Vergleich mit anderen Städten da? 
Mit Capitol und Moderne gehen 1238 Kinositze verloren. Es verbleiben die fünf Säle von Bourbaki und Stattkino mit 607 Plätzen. Das heisst: 136 Stadtluzerner:innen werden sich in Zukunft einen Kinosessel teilen. Der deprimierende Vergleich: Die Stadt Zürich zählt 10 101 (!) Kinosessel, das heisst: 43 Zürcher:innen teilen sich einen Sitz. Selbst die ähnlich kleine Stadt St. Gallen zählt mehr Kinositze (1089) als Luzern. Dort kommen 74 Einwohner:innen auf einen Kinositz. Im ganzen Land gibt es noch 98 806 Kinositze – 88 Schweizer:innen teilen sich einen Sitz. Luzern verpasst sogar den Schweizer Durchschnitt und verkommt zur Kinowüste. Quellen: Jahresstatistik ProCinema, Bundesamt für Statistik

Pendeln Blockbuster-Fans künftig nach Emmenbrücke (Maxx) oder Ebikon (Pathé)?
Gezwungenermassen ja, denn das Kinospektakel findet in den Multiplexen statt:

Der Grossteil der 6281 Kinosessel im Kanton Luzern entfällt auf das Pathé in Ebikon mit 1909 und das Maxx in Emmenbrücke mit 1956 Sitzen. Diese dürfen sich über mehr Besucher:innen freuen, wenn Capitol und Moderne verschwinden.

«Wir denken, dass wir mit unserem Konzept auch Luzerner:innen nach Emmen ins Maxx bringen. Die Lage bietet genügend Platz und eine gute Anbindung ans Ballungszentrum und die umliegenden Regionen», sagt Olivia Willi von blue Entertainment. Gleichzeitig spüre man die Konkurrenz durch das Pathé. 

Und profitiert das Kino Bourbaki von der Schliessung? 
«Auf den ersten Blick sieht dies tatsächlich so aus – das ist aber ein Trugschluss. Egal ob Mainstream-, Independent- oder Kunstkino: Wir sind alle in der gleichen Welt unterwegs. Filmbranche und Kinolandschaft sind ein Organismus. Wenn ein Organ wegfällt, wirkt sich dies aufs Ganze aus – in der Regel nicht zum Guten.
 

 

Insgesamt zählt die Schweiz 605 Leinwände, das sind über 200 mehr als noch vor 30 Jahren.

 

Für mich als überzeugten Kultur- und Stadtmenschen ist es immer ein Verlust, wenn Kinos verschwinden. Denn sie gehören über Generationen hinweg zum Stadtbild, sind Bezugspunkte und stiften Identität. Kino ist ein Kollektiverlebnis; Kinos stimulieren die Gesellschaft, sind ein wichtiger Kulturtreiber. Eine Stadt ohne Kinos will ich mir gar nicht vorstellen.» – Frank Braun, Programmleiter und Mitglied der Geschäftsleitung bei Neugass Kino, welche die Bourbaki-Kinos betreibt.

Kann das Bourbaki jetzt auf mehr Unterstützung und Solidarität zählen in Luzern?
«Ich hoffe natürlich, dass die Schliessung der beiden traditionsreichen Kinos als das erkannt wird, was es ist: ein Alarmzeichen. Es muss dazu führen, dass den verbleibenden Kinos umso mehr Sorge getragen wird, zumal es noch nicht absehbar ist, wie sich die Besucher:innenzahlen nach der Pandemie erholen werden. Das wird womöglich Jahre dauern. Die Lage ist wirklich ernst. Die Kinokultur als Ganzes ist gefährdet.» – Frank Braun

Passt das Bourbaki sein Programm an und zeigt künftig mehr Blockbuster?
«Wir haben bereits grosse Produktionen wie ‹Dune›, ‹House of Gucci› oder den letzten Bond-Film gezeigt. Nicht als Lückenfüller, sondern weil unser Publikum diese Unterhaltungsfilme in Originalton im Bourbaki sehen möchte. Wir werden zukünftig auch bei grossen Unterhaltungsfilmen eine sorgfältige Auswahl treffen und uns auf Qualitätstitel beschränken. Keinesfalls werden diese jene Filme ersetzen, die wir seit Jahrzehnten pflegen. Die Angebotsvielfalt, die vom lokal verankerten Dokumentarfilm bis zum japanischen Genrekino reicht, bleibt Kern unseres Programms. Der Filmdruck wird jedenfalls weiter zunehmen und die Programmgestaltung noch kniffliger. Eigentlich bräuchten wir im Bourbaki bereits jetzt eine weitere Leinwand, um den Filmen gerecht zu werden.» – Frank Braun

Was passiert mit den leeren Kinos Capitol und Moderne in Zukunft?
Wie die zentralen Flächen an der Pilatusstrasse 21 (Moderne) und Zentralstrasse 45 (Capitol) ab 2023 genutzt werden, ist noch offen. Die Gebäude gehören der Moderne Immobilien respektive der Immobiliengesellschaft Capitol AG. Dahinter steckt Georg M. Egger, der als Kinokönig von Luzern die Kinos lange Zeit betrieb und sich 2007 aus dem Geschäft zurückzog. Die Liegenschaft des Moderne ist bereits im Internet ausgeschrieben. Und die Räume des Capitol gleich neben dem Gleisfeld lassen zumindest bereits das Ideenkarussell anspringen. Quelle: Grundbuchplan
 

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Illustration: Olivier Samter

 

Apropos Ideen: Wären leeren Kinosäle interessant für das Luzerner Theater?
«Erst einmal bedauern wir, dass diese beiden Kinos schliessen werden. Das Luzerner Theater ist regelmässig auf der Suche nach externen Spielstätten, die die Sichtweisen auf Theater neu definieren und neue Publikumsgruppen für das Theater erschliessen. Zum jetzigen Zeitpunkt ist allerdings noch nichts geplant.» – Stefan Vogel, Betriebsdirektor des Luzerner Theaters

Könnte das Capitol während der Bauphase des neuen Luzerner Theaters als Ausweichort dienen?
«Die während der Bauphase notwendige Ausweichspielstätte für das Luzerner Theater hat verschiedene Anforderungen, die für den Theaterbetrieb notwendig sind. Insbesondere braucht eine Ausweichspielstätte eine nennenswerte Bühnenfläche, die darüber hinaus technisch gut erschlossen ist, um Bühnenbildumbauten möglich zu machen. Kinosäle haben zwar attraktive Zuschauer:innenräume, aber meist keine geeignete Bühne. Eine Nutzung als Ausweichort würde voraussichtlich Umbaumassnahmen mit sich bringen. Ob sich das Capitol als Ausweichort eignen würde, müsste erst umfangreich geprüft werden.» – Stefan Vogel

Und wie siehts bei der Stadt Luzern aus: Hat sie Bedarf – etwa für eine Velostation?
Auf Anfrage heisst es, die Stadt habe keine derartigen Pläne.
 


041 – Das Kulturmagazin Mai 05/2022

Text: Jonas Wydler
Illustration: Olivier Samter

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