Luzern bucht, singt, tanzt... und trinkt – des Lustspiels erster Teil

Es war eine Ochsentour. Erst viereinhalb Stunden Literatur im Kleintheater, dann ein Konzert des Leberhauers, zum Schluss die «independent swiss film award late night» – wie sie sich so schön nennt, im Bourbaki. Dort Konzerte von Tim & Puma Mimi, The Bianca Story. Anschliessend DJ und Tanz.

Die Sonne blinzelt auf das Nichts des Neuen. Ich entsteige dem 7er-Bus, trete ins Kleintheater ein. Von Tür zu Tür. Es ist Samstagabend, zehn vor sechs. Das Luzerner Literaturfest hat eine lange Tradition. Dieses Jahr werden 25 Jahre zelebriert. Als Motto hat man den Titel des Krimi-Debuts des Luzerner Schriftstellers Beat Portmann übernommen. Wer das Buch noch nicht gelesen hat, darf dies gerne nachholen. Ich war schon am Tag zuvor hier im Kleintheater. Die Agenda meldete: «Krimi-Abend». Als selbst geweihter – jedoch nicht exkommunizierter – Literat vor dem Durchburch hat man für Kriminalgeschichten oft bloss ein despektierliches Räuspern übrig. Warum eigentlich? Es gibt auch viele schlecht geschriebene sogenannte «literarische» Werke. Und das Meiste, das an diesem Soire geboten wurde, war alles andere als übel. Beat Portmann eröffnete den Abend mit einigen Passagen aus – genau! – «Durst», nachdem ihn die Moderatorin mit geschlossenen Fragen zwecks Vorstellung so etwas wie interviewt hat. Mehr zu ihr später. Beat las präzise, verständlich. Die Worte und Sätze öffneten durch das laute Gelesen-werden einen ganz anderen Raum. Die Sprache entwickelte einen wunderbaren Fluss. Dann die erste Überraschung. Frank Göhre, der Drehbuchautor von «Tatort» und «Cobra 11» las nicht wie befürchtet ein TV-Skript, sondern aus seinem neust erschienen Buch «MO – der Lebensroman des Friedrich Glauser», was mir sehr zusagt. Dann kam sogar noch was über die Einstürzenden Neubauten – deren Gündungsmitglied F.M. Einheit übrigens bald im Südpol zu sehen und hören sein wird. Judith Kuckart las. Sie hat beim Theater «Charlotte Corday, Mörderin Marie» mitgewirkt, für das die Neubauten damals musizierten – «wir haben uns verkauft, aber stellen Sie sich vor, wenn sie nichts zum Essen auf dem Tisch und die Androhung, dass sie dir nächste Woche das Gas abstellen im Briefkasten haben...» (E.N.-Sänger Blixa Bargeld im Arte-Film «Mein Leben» über das Projekt). Dazwischen im Stundentakt immer wieder Pausen. Währenddessen spielte Martin Ledergerber auf der Bühne Musik. Da das Kleintheater mittlerweile rauchfrei ist, wie so viele Gebäude, kam ich leider nicht in den Genuss der musikalischen Pausenuntermalung. Dafür hörte ich die freischaffende Autorin und Journalistin Mitra Devi lesen. Ihre Krimigedichte waren trotz der zum Teil sehr simplen Reimen, dank stets unerwarteten Wendungen sehr komisch. Leider verpasste ich aus verschiedenen Gründen die Lesung von Silvio Blatter, der 1946 in einer Arbeiterfamilie geboren wurde und der krönende Abschluss des Abends markierte. Doch dies war Freitag. Heute ist Samstag. Sonnabend, wie die Ostdeutschen zu sagen pflegen. Angelika Waldis, die mit ihrem Mann 1982 die Schülerzeitschrift «Spick» gegründet hat und diese bis 1999 leitete, macht den Auftakt. Wir erfahren Szenen aus den «geheimen Leben der Schneiderin», einer vordergründig biederen Frau, die es irgendwie jedoch trotzdem faustdick hinter den Ohren hat. Waldis`Schreibstiel hat etwas ganz eigenes, eine - und das ist positiv gemeint - sehr individuelle Poesie. Nathalie Zeindler hat eine Biographie über die Luzerner CVP-Nationalrätin und Bundesratskandidatin Judith Stamm geschrieben. Daraus liest sie uns vor, zwischen zwei teils spannenden, teils seeeehr lang gezogenen Gesprächen zwischen Moderatorin, Autorin und Judith Stamm. Erfreuend, hören zu dürfen, dass es früher mal sogar in der CVP Persönlichkeiten gab. Ihre sich ständig wiederholenden Kampfparolen für die Frauenbewegung wirken in der heutigen Zeit jedoch anachronistisch und verstaubt. Nerven ein wenig. Beat Brechbühl ist für mich persönlich einer der Höhepunkte und Entdeckungen des Abends. Eines der wenigen verbleibenden Originale der Schweizer Literaturszene. Die heute zum Besten gegebene Geschichte aus seinem neusten Wurf «Der Treueprüfer» spielt an der Buchmesse in München und ist ein wilder Mix-up zwischen Surrealismus und Existentialismus. Danach Gedichte. Dann noch mehr Gedichte. Uraufführung eines Lyrikziklus über Bäume. Fantastisch, der Mann! Als nächstes wird Isabella Huser begrüsst, der neue Liebling von Rico Bilger. Sie liest aus dem vielgelobten «Benefizium des Ettore Camelli», von dem die NZZ schreibt, es sei aufregend, abgründig, mit grosser Poesie und Einbildungskraft geschrieben, hinreissend und aufregend. Leider kann ich Banause von dem allem rein gar nichts erkennen und langweile mich bloss. Dann wieder Pause. Drinnen spielt Ricardo Regidor Unterhaltungsmusik auf hohem Niveau. Draussen rauche ich mit andern. Peter Stamm ist eingetroffen. Auch er raucht draussen. Er ist mega. Peter Stamm. Vielleicht mein Favorit unter den noch lebenden Schweizer Schriftstellern – nicht bloss weil er u.a. Psychopathologie studiert hat. In meiner Schulzeit lasen wir mit der Klasse seinen Roman «Agnes» als er gerade frisch erschienen war. Mein sonst extremst wohlsterzogener, katholischer Klassenkamerad regte sich teuflisch derüber auf, das Agnes schon im ersten Satz als tot deklariert wurde. Ich schnödete über das Buch, weil ich über alles schnödete, was uns die Lehrer damals an Literatur vorsetzten. Ausser Dürrenmatts «Richter und sein Henker», das mich zum Nihilismus führte. Doch dies ist eine andere Geschichte. Als ich den verschmähten Roman ein paar Jahre später zum zweiten Mal las, war ich wie vom Eisblitz getroffen. Diese minimalistische Prosa. Diese Kälte. Diese auf der Seele brennende Kälte. Und auch heute wieder. Stamm liest die erste Geschichte aus seinem neusten Kurzgeschichtenband «Wir fliegen». Seelische und Physische Nähen und Distanzen verflechten sich zu einem unentwirrbaren Knäuel. Die Unmöglichkeit der Liebe ist das Brot der Dichter. Den Abschluss des Abends macht Maria Cecilia Barbetta. Sie wurde 1972 in Buenos Aries geboren und sieht immer noch sehr gut aus. Nebenbei schreibt sie auch gute Bücher. Auf deutsch. Sie absolvierte eine Schule für Deutsch für Fremdsprachige und studierte Germanistik in Berlin. Die Relikte aus dem spanischen in ihrem Akzent haben ihren eigenen Charme. Sie liest aus  ihrem neusten Werk «Änderungsschneiderei Los Milagros», das ich, den gehörten Ausschnitten nach zu Beurteilen, wärmstens empfehlen kann. Nun sind wir bereits am Ende des ersten Teils. Ich möchte es nicht missen, die Organisatoren zu loben, Anerkennung und Respekt für Programm und Ablauf auszudrücken. Lesen ist wichtig. Auch in Luzern. Ein kleiner Wehmutstropfen: Die Moderatorin, Martina Kouni, war... Na ja. Oft hatte ich das Gefühl sie wisse überhaupt nicht, über was sie spreche. Meine Begleitung hat es besser ausgedrückt, als ich es je vermöchte, deshalb möchte ich sie zu Worte kommen lassen: «Ich befürchtete so ne Ex-Miss-Schweiz-Moderation und es kam viiiel schlimmer.»