Literarisches Flanieren

Loge, Luzern, 17.10.2017: Als Planer & Flaneur sind Schriftsteller Pino Dietiker und Musiker Jul Dillier gemeinsam auf Schweizer (Lese-)Bühnen unterwegs. Wer von ihnen dabei eher der Planer und wer eher der Flaneur ist, wissen sie selbst nicht genau zu sagen. Mit fünf Texten zu musikalischer Begleitung brachten sie gestern Stadtbeobachtungen in die Loge.

Diesen Samstag hat die Schweizer Luftwaffe den Himmel von Luzern mit waghalsigen Manövern durchbrochen. Trotz Luftverschmutzung und Lärm (und eventualen weiteren Kritikpunkten) schwingt solchen Glorifizierungen der Technik gemeinhin auch ein bewunderndes, wenn nicht gar ehrfurchtvolles Gefühl entgegen. Gerade diese interessante, ambivalente Haltung gegenüber Technikgebilden, die beispielsweise eine Landschaft oder eine friedliche Stille verunglimpfen, und doch auch etwas Erhabenes ausstrahlen, stellt Pino Dietiker in einer Hymne auf das Windkraftwerk aus. Unter seinem Blick wird ein Windrad zu einer «dreiarmigen Riesin», die übermächtig auf dem Sonnenberg thront und, gekleidet in einem eindringlichem Sprachgewand, zur Heiligen und zur Retterin mutiert. Ihm gelingt es, das poetische Potenzial von Windrädern auf eine Weise auszuschöpfen, die auch literarischen Figuren wie Don Quijote einen Auftritt gewährt und Sprache auf einer Metaebene zum Thema macht. Auch ist Pino Dietiker die Bekanntschaft mit einem wunderbaren Wort zu verdanken, Windrad auf Französisch: éolienne.

Dieser Abstecher zu Windrädern auf dem Land blieb jedoch gestern eine Ausnahme. Thematisches Bindeglied innerhalb des Textgeflechtes bildete das Urbane, das mit detailversessenen, chirurgischen Blicken seziert wurde.

Pino Dietikers Texte sind verblüffend sprachgewaltig, bildhaft und allegorisch. Bei ihm werden Hubschrauber zu «Rettungslibellen», «Flutlichtmasten» flankieren eine Baustelle und «gusseiserne Frauentorsos» stehen am Strassenrand. Trotz hochgradig verdichteter Sprachpräzision ist dem Erzählten mühelos zu folgen. Leichtfüssig werden bei ihm Stadtphänomene im Einzelnen aufgegriffen und metaphorisch ins Allgemeine gelenkt, assoziativ mit Existenzfragen verwoben.

Die Stärke seiner Texte liegt nicht in der Klangästhetik oder im Rhythmus – auch wenn sich zwischendurch einige sehr kraftvolle und vor allem klangvolle Satzarrangements hervortun – sondern sie liegt in seiner scharfsinnigen, durchbohrenden und herzhaft poetischen Sprache, die ausdrucksstarke Bilder, Gedanken und Stimmungen baut und die das Interesse wecken, seinen Texten auch mal in geschriebener Sprache zu begegnen.

In ihrem sogenannten Kernstück lässt sich das Duo auf seinen Namen ein und fragt: Planer oder Flaneur? Schreibtisch oder Spaziergang? Konzept oder Erfahrung? Ohne sich auf eine Seite zu stellen, wird ein anregendes Oszillieren zwischen den beiden Ansätzen beibehalten. Im Verlauf der nächsten Wochen ist ein Live-Mitschnitt dieses Textes, aufgenommen an den Solothurner Literaturtagen, online über diesen Link anzuhören: (https://www.spoken-word.ch/de/artiste/2895/biographie).

Dilliers musikalische Klänge bilden den Teppich, auf dem sich Dietikers sprachästhetische Beobachtungen genussvoll ausbreiten. Das Instrumentale bindet das Gesprochene an den Raum, verleiht ihm eine spielerische Nuance und befreit es von der Ernsthaftigkeit, die es in den Raum projiziert hätte, wäre es auf sich alleine gestellt gewesen.

Und um eine aussöhnende Schlussphrase zu platzieren, die Dietiker zu Beginn in den Raum geworfen hat und die dem möglichen Spannungsverhältnis zwischen Planer und Flaneur sehr simpel, aber deutlich begegnet: «Wenn man über eine Stadt reden möchte, muss man sie zuerst mal bauen».