Lila Kunterbunt

Südpol Luzern, 10. - 12.09.2014: Der Titel «Lila Tage» ist eigentlich eine Farce: «Kunterbunt Tage» sollten sie heissen! Ein exquisites Angebot mit Musik, Literatur, Performance und Kunst sorgte für diesen Eindruck. Und brachte den Autor im Traum sogar zum Saxophonspiel.

Das famose Quartett Lila hat sich viel vorgenommen. Im Austausch mit verschiedenen Luzerner Kultur-Szenen wurde innert drei Tagen ein dichtes, spannendes Festival-Programm geboten und eine CD aufgenommen. Schon beim Herantreten Richtung Südpol-Eingang war die erste Aktion sichtbar. Das Kollektiv Leinenlos um Tatort-Aktionskünstlerin Adriana Zürcher konstruierte sowohl drinnen wie draussen eine Art Netzwerk aus Klebstreifen – ein Symbol für die Vernetzung an den Lila-Tagen? Zudem wurden in unregelmässigen Abständen die Besucher mit Klebeband vermessen  und dadurch fein säuberlich an der Aussenwand verewigt. Soweit die künstlerischen Tätigkeiten, die den Anlass begleiteten. Abend 1: Andre Schürmann, Lila, KOI Die Eröffnung fand ohne Kulturteil.ch statt; der Autor war nicht vor Ort. Loge-Kopf Andre Schürmann eröffnete mit einer Lesung. Anschliessend Musik: Lila präsentierten ein erstes Set, das im Vergleich zu den Folgetagen laut Zuschauerstimmen als das chaotischste empfunden wurde. Danach KOI: So heisst nun offiziell das Projekt von Beni Bucher und Manuel Troller mit Andi Schnellmann sowie Mario Hänni. Ein Bandname, endlich, wenngleich marketingtechnisch nicht gerade die beste Lösung (nur schon punkto Google). Wer sich eine ausführlichere Rezension des Quartetts in Bestform wünscht, tue das hier: http://www.kulturteil.ch/2014/zwischen-bild-und-ton-gen-ende-fumetto/ Abend 2: Lila, Koch-Schütz-Studer, Lila feat. Koch-Schütz-Studer Der zweite Abend, rund 60 bis 80 Leute im Club, das Konzert kann losgehen. Julian Sartorius (Schlagzeug), Flo Stoffner (Gitarre), Hans-Peter Pfammatter (Keys/Elektronik) und Christoph Erb (Tenorsax, Bassklarinette) betreten die Bühne. Das Gebrabbel verstummt und in der Stille erwachen Klänge. Interessant sind die kleinen Dinge, welche passieren, sowohl im Körper als auch Raum. Mal vermittelt der Sound Lilas eine ratternde Maschine, hervorgehoben durch Stoffners Gitarreneffekte. Dann plötzlich ein szenischer Wechsel, man wähnt sich in einem pulsierenden Insektendschungel. Immer wieder flirren Groove-Sequenzen auf, getrieben durch den genialen Julian Sartorius – hat er überhaupt Handgelenke? Gleichermassen faszinieren Erbs Klänge. Der Saxophonist wechselt zwischen Obertönen, Naturtönen und blitzschnellen Skalen, gurgelt, bläst, mit oder ohne Mundstück, fast zugeklebtem Schallbecher: Faszinierend, was sich mit Blasinstrumenten machen lässt.

Selbst in den leisesten Momenten trägt das Spiel die Atmosphäre, vermischt sich mit dem eigenen Atem. Und dann wieder Synthesizerblitzer aus Pfammatters Tastenkästen, zurückhaltend und doch präsent. Allein der Abschnitt mit den ständig wechselnden Programmen beim Micro Korg hinterfragte die Synthesizerphilosophie – Frequenz- resp. Tonmanipulation über alles - mit einem Augenzwinkern. Wenngleich gesamthaft betrachtet vor allem die erste Konzerthälfte ein wenig suchend erschien, bot das  Kultquartett bereits eine eindrückliche Demonstration seiner Genialität. Beeindruckend. Und farbig: Wieso nennen Lila sich Lila, wenn ihre Musik doch so kunterbunt ist? Je länger je mehr erweckten die mantraartigen Ritualkünstler ein Gefühl, das gegen aussen im als kopflastig verschrienen Free Jazz (wenn man den hier dargebotenen Sound so nennen darf) eher weniger vermutet wird: Gänsehaut. Gänsehaut im Free Jazz. Gross. So intensiv, dass der Autor in der gleichen Nacht träumte, er stände selbst auf der Bühne und würde Saxophon spielen. Ohne Blasinstrumenterfahrung wohlbemerkt. Die seit 1990 tätigen Koch-Schütz-Studer mit der Luzerner Schlagzeugkoryphäe Fredy Studer hielten den hohen Level anschliessend aufrecht. Elektronische Elemente wie Laptop und Samples kombiniert mit Bassklarinette, Cello und Schlagzeug ergeben Hardcore-Kammermusik. Drei erfahrene Musiker, die doch im Herzen den innovativen Punk spüren. Beispielsweise dann, wenn Hans Koch mit einem kleinen Geigenbogen über das Mundstück streicht und Töne erzeugt. „Das habe ich noch nie gehört“, murmelt nicht nur der erstaunte Saxophonstudent in jenem Moment. Selbiger Eindruck, wenn Martin Schütz am Cello plötzlich Grooves zu klappern beginnt, die wie ein Fischgräten-Technobeat klingen.

Zum Schluss die Kollaboration der beiden Formationen: Und wieder entstehen Kopfbilder, dargestellt als Verschmelzung jener obenstehenden Eindrücke. Metallischer Maschinenelektro im Regenwald kommt in etwa hin, wenn beschreibungstechnisch weiterhin Metaphern dominieren sollen. Wie schon beim Konzert Lilas erfolgt der Höhepunkt gegen Schluss – mittels einem schnaufenden, fast schon rituellem Mantra-Beatbiest, das im wabernden Licht Klangmoore durchwandert. Ein Flash, welcher ebenso bei einem Technoanlass spürbar sein könnte. Schön zu beobachten im Anschluss: der Austausch zwischen Jung und Alt im Publikum. Versinnbildlicht durch jenes Bild: Der über sechzigjährige Fredy Studer diskutiert mit Mittezwanziger Milo Grüter (Dietrich & Strolch) über Drumbeats und Rhythmusfiguren – am Bühnenrand sitzend, klatschend, gestikulierend. Abend 3: Lila, Blind Butcher, Claudia Bucher Verflixte Busverbindungen, man verflucht den Standort des Südpols für ein paar Sekunden. Dessen Entfernung in Kombination mit dem üblichen ÖV-Zusammenbruch ist Grund für das Verpassen von Claudia Buchers Performance. Nur noch ein Tisch voller Beerensauce zeugt von ihrer  Darbietung. Hoffen wir auf ein nächstes Mal. Dann wieder Musik von Lila. Man könnte fast meinen, die Musiker wären sich des Wochenendauftaktes bewusst gewesen: Das ekstatisch-tanzbare Set liess diverse Neugierige die Welt des Free Jazz fassbar erleben und galt als das beste der drei Tage – grande!  Tanz lautete beim letzten Live-Act dann bewusst die Devise. Blind Butcher sorgten mit ihrem krude-packendem Disco Punk Country für Beinorgien. Dass trotz der skurrilen Aufmachung zwei  ausgebildete Profimusiker am Werk sind, war beeindruckend ersichtlich. Gerissene Gitarrensaite? Schlagzeugübergang mit wunderbarem Einstieg et voila, back on track: Cool as shit. Ebenso crazy Oklahoma Butcher, der nebst Schlagzeugspiel und Backvox zusätzlich den Moog Minitaur für die Bassspuren bediente. Power, Feier, Rausch: Wieso gibt’s nicht mehr Bands wie die blinden Schlächter? Ein würdiger Abschied der kunterbunten Lila Tage. Schade, sind sie schon vorbei. Bitte wieder, bitte öfters, bitte so schnell wie möglich.