Kunst, Katastrophen und totale Kontrolle

Brechen Desaster über eine Gesellschaft herein, dann vermischen sich Kultur und Natur auf ungewohnte Weise. Laurina Fässlers Cyanotypien befassen sich sowohl mit utopischen wie auch dystopischen Resultaten menschlicher Versuche, die Natur zu beherrschen.

Dieser Artikel erschien bereits in unserer Juniausgabe 2020. Hier 041 – Das Kulturmagazin abonnieren!

Was soll Kunst in Krisen schon ausrichten? Wie sollen Kunstwerke nicht nur als «Ablenkungsmanöver, schaler Ersatz oder Kitt provinzieller Kollektive» dienen, sondern vielmehr «den Anmassungen des Alltags» etwas entgegenhalten? Auf diese Fragen aus der letzten Ausgabe unseres Magazins finden sich schnell auch durchaus streitwürdige Antworten, entfachen sie doch die alten Diskussionen um Autonomie der Kunst und politische Ansprüche an Kultur wieder. Über menschliche Macht und Ohnmacht bei verheerenden Naturphänomenen können Kunstwerke jedoch auch ohne konkrete politische Position treffende Aussagen machen. An die prekäre Beherrschbarkeit der Natur erinnert gekonnt Laurina Fässler (*1987) mit ihrer Werkgruppe «Cyanotypien», die 2019 auf der Jungkunst Winterthur, in der Neubadgalerie Luzern und im Solothurner Künstlerhaus S11 zu sehen war.

Politische Ansprüche

Doch bevor es an die Einordnung der Arbeiten der Schwyzer Künstlerin geht, gilt es einen Bogen zu schlagen, der uns zunächst zum Kunstsoziologen Jens Kastner führt. Dieser hat in seinem Buch «Die Linke und die Kunst» (2019, Unrast Verlag) eindrücklich nachgezeichnet, wie linke Theorien sich über die Jahrzehnte hinweg in einem «Spagat» abschuften zwischen politischen Ansprüchen an Kulturproduktion und dem Zugeständnis künstlerischer Freiheit. Es stellt sich die Frage nach Bewertungskriterien und wie weit sie den künstlerischen Schaffensprozess anleiten oder einordnen sollen: Muss Kunst sich mit gesellschaftlichen Verwerfungen beschäftigen oder muss sie gar Lösungen erdenken? Sollten Kunstschaffende in ihren Arbeiten eine schöne neue Welt (etwa nach Corona) imaginieren? Oder sollte künstlerisches Schaffen frei von solchen Dringlichkeiten passieren, weil nur so wirklich Neues entstehen kann?

«Malerei und Skulptur offensichtlich nicht die geeignetsten Mittel sind, um die Regierung zur Verstaatlichung von Land zu drängen.»

John Berger (1926-2017)

Obwohl der grosse Kunstkritiker John Berger (1926–2017) dezidiert aus linker Perspektive Potenziale von Kunst bewertete, machte er es sich nicht so einfach wie viele seiner marxistischen Zeitgenossinnen. In seinem Essay «The Ideal Critic and the Fighting Critic» (1959, neu aufgelegt in einer exquisiten Aufsatzsammlung bei Verso) plädiert er für klare Fragen der Kunstkritik an jedes Werk und seine Frage klingt dabei nicht gerade sensibel gegenüber künstlerischer Autonomie: «Kann dieses Werk Menschen helfen oder ermutigen, ihre sozialen Rechte zu kennen und einzufordern?» Hiermit ist aber nicht Propaganda, Agitation oder soziales Engagement von Kunst gemeint, weil Berger sich sicher ist, dass «Malerei und Skulptur offensichtlich nicht die geeignetsten Mittel sind, um die Regierung zur Verstaatlichung von Land zu drängen».

Fiktion und Realität

Berger nahm einen kleinen, aber produktiven Umweg. Nach der Wahrnehmung eines Kunstwerks würden wir grundlegend mitnehmen, wie ein Künstler, eine Künstlerin auf die Welt blickt. Durch diese künstle rische Weltsicht könnten wir unsere eigenen Potenziale erkennen. Dabei muss es sich gar nicht um ein Idealbild handeln, das wir nur noch zu realisieren brauchen, sondern ebenso um die Herausstellung von Horror und Gewalt, die beendet werden können. Berger geht davon aus, dass schon die Darstellung anderer Möglichkeiten Kraft freisetzen kann für die faktische Verbesserung gesellschaftlicher Verhältnisse.

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Dieser Gedankengang kann mit Niklas Luhmann (1927–1998) geschärft werden. Kunst produziere, so der Soziologe, immer eine «Realitätsverdopplung», weil sich das Kunstwerk als «fiktionale Realität» neben die «reale Realität» des Alltags stelle. Die Herstellung dieser fiktionalen Welt kann so Schritt für Schritt nachvollzogen werden, da ein Werk ja keinem externen Zweck dient und doch absichtlich gemacht ist. Jeden Strich und jede Fläche, jede Bewegung, jede Note und jedes Wort wird so zu einer Entscheidung, die wir befragen können. Alles hätte doch auch anders sein können, denn warum dieser Strich und kein anderer oder, noch radikaler: warum gar nichts? Diese Fragen provozieren potenziell, dass wir alles, was uns umgibt, als hergestellt beobachten: auch den Staat, Eigentumsrechte, Geschlechterrollen und Umgangsformen. Die ganze Welt erscheint im «Modus des Gemachten» und das heisst immer auch als anders möglich. Aber wie anders?

Natur und Katastrophen

Welche Alternativen können etwa während einer Pandemie gedacht werden? Wo sind überhaupt menschliche Eingriffe möglich, wenn die Menschheit doch anscheinend von einem Naturphänomen heimgesucht wird? Die Sozialwissenschaften reagieren auf solche Fragen mit der Erkenntnis, dass es keine Naturkatastrophen gibt. Es gibt lediglich Naturphänomene und dann eben manchmal schlechte Infrastruktur und besonders gefährdete Personengruppen.

Nicht das Erdbeben, die Hitzewelle, der Vulkanausbruch oder die Flut machen die Katastrophe, sondern schwache Bausubstanz, schlechte Verkehrswege, eine marode Notfallmedizin oder diskriminierende Politik führen zu Leid und Tod. Die gegenwärtige Pandemie macht das deutlich, wenn die nationalstaatlichen Gesundheitssysteme und Massnahmen zu durchaus unterschiedlichen Verläufen führen. Auch wenn die Existenz des Virus nicht einfach anders gemacht werden kann, so sind doch konkrete Handlungen dafür verantwortlich, wie viel Schutzmaterial vorhanden ist oder ob die Ausbreitung schnell genug verlangsamt wird.

Blueprints im Grossformat

Dieses Spannungsfeld von Gestaltung und Naturphänomenen verdeutlichen Laurina Fässlers jüngste Arbeiten, wenn auch erst auf den zweiten Blick. Die bildende Künstlerin und gelernte Schreinerin verwendet das alte fotografische Verfahren der Cyanotypie. In der nach dem Verfahren benannten Werkgruppe (seit 2018) benetzt Fässler Seide, Baumwolle oder Viscose mit lichtsensiblen Chemikalien und faltet oder wringt die Stoffe. Nach dem Trocknen werden sie belichtet und dabei stellenweise abgedeckt. Dadurch färben sich die Oberflächen blau und durch die vorherige Bearbeitung, verschiedene Belichtungsdauer oder das Abdecken entstehen Muster. Je länger die Belichtung, desto intensiver wird die cyanblaue Färbung. Durch diesen Prozess entstehen hypnotisierende Arbeiten, die trotz ihrer Abstraktheit Erinnerungen hervorrufen an Himmel, Gletscher, Gebirgsoberflächen und formell oft an gegenstandlose, konstruktivistische oder monochrome Malerei.

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Während die Arbeiten visuell beeindruckend und manchmal schon verdächtig attraktiv sind, lenkt allerdings schon die Namensgebung der Werkgruppe die Aufmerksamkeit auf den Produktionsprozess. Blaupausen kennen viele nur noch aus Filmen – als Gebäudegrundrisse für den nächsten Bankraub oder als technische Pläne für das kommende Spionageabenteuer. Die zugrunde liegende Technik der Cyanotypie erfuhr allerdings schon mit ihrer Erfindung Mitte des 19. Jahrhunderts andere Bekanntheit. Die britische Botanikerin Anna Atkins benutzte Anfang der 1840er das damals neue Verfahren, um Algen in ihrer Publikation «Photographs of British Algae: Cyanotype Impressions» abzubilden. Heute wird Atkins deshalb oft als erste weibliche Fotografin bezeichnet und ihr Buch gilt als eines der ersten überhaupt, das mit einem fotografischen Verfahren illustriert wurde.

Bei Atkins ist die Verbindung zwischen Cyanotypie und der menschlichen Naturbeherrschung durch Repräsentation und naturwissenschaftliche Klassifikation ganz offensichtlich. Fässlers abstrakte Arbeiten richten den Blick dagegen auf die Herstellung und Technologie selbst. Wer sich das Verfahren eines Blueprints vor Augen führt, kann nachvollziehen, wie die Muster, Linien und Flächen auf Fässlers Arbeiten gekommen sind. Im Weiss und in den Blauschattierungen zeigt sich unmittelbar Fässlers Bändigung des Lichts. Sie braucht es für den chemischen Prozess, kontrolliert es aber totalitär. Sie entscheidet, wo Licht auf die Fläche trifft, und kann die Dauer sekundengenau steuern. Neben wechselhaftem Sonnenlicht verwendet Fässler dabei wie in einer Experimentieranordnung künstliche Lichtquellen und profitiert somit von einem ganzen Regime technischer Standards, wissenschaftlicher Errungenschaften und gesellschaftlicher Elektrifizierung.

Keine Blaupause der Alternativen

Diese Kontrolle des Lichts, die ich mir ganz bildlich – und zwar Schritt für Schritt – vorstellen kann, erscheint in Bezug auf sogenannte Naturkatstrophen gleichzeitig utopisch und dystopisch. Der Prozess realisiert die menschliche Naturbeherrschung und trägt immer auch grössenwahnsinnige Hybris in sich. Fässlers Bändigung verschiedener physikalischer und chemischer Vorgänge verweisen im Sinne Bergers in der Tat auf gesellschaftliche Potenziale in der Vorbereitung auf und den Umgang mit Naturphänomenen. Mit Luhmann kann jede Falte «wieso und warum so?» gefragt werden. Während so immer die Kontingenz menschlicher Steuerungsversuche erkannt wird, muss bei Fässlers Arbeiten auch klar sein, dass eine so perfektionierte und eiskalte Beherrschung von Energie wie in ihren autoritären Zurichtungen nicht möglich ist. Vielleicht gar nicht gewünscht werden sollte.

Die Jungfernfahrt der Titanic, der GAU in Tschernobyl, missglückte Bergbesteigungen, Unfälle in Raumfahrtprogrammen und viele andere Katastrophen zeigen die Begrenztheit menschlicher Kontrolle in einem komplexen und teilweise unvorhersehbaren Ökosystem. Andererseits zeigen Regionen mit relativ milden Pandemieverläufen, Frühwarnsysteme für Naturphänomene und zahllose Erfindungen der Menschheit, dass eine Gesellschaft anders vorbereitet sein kann und anders auf Naturereignisse reagieren kann. Dass die Anmassungen des Alltags potenziell anders sein könnten, verstehe ich auch durch die Kunst von Fässler. Welche Alternative das aber sein soll, muss wohl woanders erdacht und entschieden werden als in Dunkelkammern und auf einem Viertelquadratmeter atemberaubendem Blau.

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