Kulturgeschichte vor der Haustür entdecken

Unsere Gegenwart zwingt uns, Neues innerhalb des nun eng gesteckten Radius zu entdecken. Judith Rickenbachs kulturgeschichtlicher Reiseführer ist ein ausgezeichneter Kompass für Expeditionen durch Ob- und Nidwalden.

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Der reich bebilderte Band «Sichtbar. Verborgen» lädt dazu ein, die vielfältige Kulturgeschichte in Nidwalden und Obwalden zu entdecken. Judith Rickenbach, Autorin und gleichzeitig Verlegerin des Bandes, erzählt darin über weitum bekannte Kulturgüter wie den Sarner Hexenturm, in dem das «Weisse Buch von Sarnen» aufbewahrt wird, oder den Totentanz in der Heiligkreuzkapelle in Emmetten – detailreich und eingebettet in Wissen um historische Zusammenhänge, die sich nicht auf den ersten Blick erschliessen. Rickenbach erzählt aber auch viele unerwartete Geschichten. Etwa jene der Trockenlegung des Sumpf des Aarieds, die 1850 auf Druck des Giswiler Arztes Peter Halter durchgesetzt wurde. Der massive Eingriff in die Landschaft hatte die Bekämpfung des Wechselfiebers zum Ziel, quasi der europäischen Malaria – und war tatsächlich von Erfolg gekrönt.

Judith Rickenbach: Sichtbar. Verborgen.

Auch Spuren neuer und neuster Geschichte kommen in Rickenbachs Buch nicht zu kurz, so erinnert etwa die von internierten polnischen Soldaten errichtete Panzersperre beim Dachenried in Ennetmoos an die Réduit-Strategie der Schweiz im Zweiten Weltkrieg. Und in der 1986 eröffneten Dorfsiedlung am Dürrbach in Engelberg gab der Engadiner Künstlers Steivan Liun Könz in grossf lächigen, eindrücklichen Sgraffitos Einblicke in das Leben der Eigentümer der Wohnungen. Als Archäologin war Rickenbach an Grabungen rund um das Mittelmeer beteiligt, dann bis 2010 während fast 20 Jahren im renommierten Museum Rietberg als Kuratorin für die Abteilungen Amerika, Orient und Schweizer Masken tätig. Dass sie sich nun seit über zehn Jahren in ihrem Verlag kaul+lies der hiesigen Kulturgeschichte verschrieben hat, ist ein grosser Glücksfall. Denn ihre sorgfältig umgesetzten Bücher verknüpfen immer wieder lokale Geschichte mit Wissen über internationale und globale Entwicklungen.

Zu bedauern gibt es einzig, dass die 173 Beiträge nur über die geografische Sortierung erschlossen sind. Ein Register zu bestimmten Themen wie Stromwirtschaft, Bergbahnen oder sakraler Malerei hätte sich angeboten, genauso würden viele Menschen ausführlichere Wegbeschreibungen schätzen: «Von Grafenort führt eine schmale Strasse hinaus zur Kapelle» – solch kryptische Hinweise scheinen vor allem für Leute sinnvoll, die ohnehin schon ortskundig sind. Dies sollte allerdings niemanden davon abhalten, das Buch unter Zentralschweizer Weihnachtsbäume zu legen – ob bei neu Zugezogenen oder aber Menschen, die glauben, bereits alles über Ob- und Nidwalden zu wissen: Ganz sicher nämlich werden alle das eine oder andere noch entdecken und vermeintlich Bekanntes fortan mit geschärftem Blick sehen.