Kulturfrühling abgesagt

Lockdown, Vorhang zu, Stecker raus: Das öffentliche Leben im Land ist zum Erliegen gekommen. Sicher bis am 19. April, wahrscheinlich länger. Das Coronavirus hat das Unvorstellbare geschafft und den gesamten Veranstaltungsbetrieb lahmgelegt. Die Folgen sind noch nicht abzuschätzen.

Bild: Mart Meyer

Die «ausserordentliche Lage» hat uns von einem Tag auf den anderen ein Leben ohne Konzerte, Theater, Lesungen, Kino, Museen beschert. Ja, nicht einmal mehr das Jammern beim gemeinsamen Bier ist möglich. Die Kulturszene wird vom Coronavirus mit voller Wucht getroffen. Innert unvorstellbar kurzer Zeit hat sich die Lage bis zum kompletten Stillstand zugespitzt. Ende Februar wurden zunächst Veranstaltungen mit mehr als 1000 Personen verboten. Dann lag die Grenze bei 100, und seit Mitte März geht gar nichts mehr. Für viele Veranstalter und Kulturschaffende, die ohnehin von der Hand in den Mund leben, geht’s ans Eingemachte. «Arbeitslos #corona», kommentiert eine Sängerin auf Facebook. Mehrere Tausend Franken Lohnausfall nur für den März, rechnet ein anderer vor.

Es war ausgerechnet der Sedel, der das neue Regime Ende Februar als einer der ersten Clubs schmerzlich erfahren musste. «So eine Scheisse habe ich in meinem ganzen Leben als kleiner Veranstalter (und das sind nun auch schon bescheidene 37 Jahre) noch nie, absolut noch nie erlebt», liess Martin Gössi via Facebook Luft ab. Sein Konzert fiel ins Wasser, als gleichzeitig im KKL die grosse Musik-Gala über die Bühne ging. Inzwischen undenkbar. Die anfängliche Wut und das Unverständnis sind einer grossen Solidarität gewichen. Die harten Massnahmen sind unausweichlich, man hilft, wo man kann. #StayTheFuckHome mahnen auch jene, die sonst vom Ausgang profitieren.

Es stecken alle im gleichen Mist: Kleintheater, Luzerner Theater, Theater Stans, Südpol, Neubad – die Häuser sind zu. Wer ein Ticket für eine abgesagte Veranstaltung gekauft hat, soll das Geld spenden statt zurückverlangen, lautet der Appell. Ein Monat Betriebspause kann einer Institution schnell das Genick brechen. Sehr bitter ist es für jene, die ein Jahr lang ein Programm auf die Beine stellen, das von heute auf morgen obsolet wird: Stanser Musiktage, Schwyzer Kulturwochenende, Fumetto und Lucerne Festival.

Oder das Uferlos, das in diesen Monaten seinen Abschluss zelebrieren wollte, bevor Ende Mai Schluss ist und das Lokal einer Überbauung weicht. Man rückt zusammen, so gut es geht. Die Stanser Musiktage erlebten nach der Absage eine Welle der Solidarität. «Wahnsinn», schreiben die Verantwortlichen und rufen dazu auf, Musik der ausgeladenen Künstlerinnen und Künstler zu kaufen. «Wir werden die Zeit nutzen und putzen und flicken und machen und tun», versucht das Schüür-Team der Situation das Beste abzugewinnen.

Kreativ der Krise trotzen

Die Luzerner Konzert-Agentur Orange Peel Agency musste von Mitte März bis Ende April bereits rund 80 Shows absagen – und vergass trotzdem die daheim Gestrandeten nicht und stellte ihre Spotify-Playlist für das Restaurant Parterre gratis zur Verfügung. In Luzern wurden erste Balkonkonzerte gegeben, andere spielen via Livestream in den sozialen Medien. Radio 3fach sendet nur noch Schweizer Musik über den Äther und Radio SRF ist aufgerufen, das Gleiche zu tun, um den geschundenen Musikern so einen Teil ihrer Ausfälle zu kompensieren.

Als Ende Februar die ersten Massnahmen beschlossen wurden, dominierten Verunsicherung und Verwirrung unter Veranstalterinnen, Bookern, Musikerinnen, Kulturschaffenden. Was ist noch erlaubt und was nicht? Der Kanton Luzern richtete eine Hotline ein, über die jeder einzelne Anlass nach einer Risiko-Abwägung bewilligt werden musste. Die Behörden waren überfordert und die Hotline chronisch überlastet. Bis sie durch ein Online-Formular ersetzt wurde. Noch konnten die meisten Veranstaltungen stattfinden, aber der Mehraufwand für Kulturhäuser war gross. Besucher wurden an der Abendkasse mit Namen registriert. Wer sich in den letzten zwei Wochen in einem Risikogebiet aufgehalten hat, durfte nicht rein und im Saal wurden Desinfektionsmittel platziert.

Das Team des Kulturhauses Südpol wurde und wird auf Trab gehalten, die Planung der Veranstaltungen wurde im Verlauf des März zusehends komplex und ungewiss – bis hin zur kompletten Schliessung. Wer für die Kosten haftet, ob Ausfall-Gagen bezahlt und wie Tickets zurückerstattet werden, ist noch offen. Sicher ist: Die Situation ist für den Südpol ein echtes Problem. «Wir sind stark abhängig von den Ticket und insbesondere den Gastronomieeinnahmen. Die Auflage des Bundes trifft die Veranstaltungsbranchen hart, sei dies im Kultur- oder im Sportbereich», sagt Marc Rambold, Leiter des Betriebsbüros.

Unzählige offene Fragen

Früh geschlossen wurde auch das KKL mit seinem Konzertsaal für 1900 Personen. Alle Auftritte des Luzerner Sinfonieorchesters bis Ende April wurden abgesagt, jene der Festival Strings oder des City Light Symphony Orchestra und des 21st Century Orchestra verschoben. Das Sinfonieorchester leidet unter den «schmerzhaften finanziellen Einbussen», denn Löhne müssen weiterhin bezahlt werden. Auch das Sinfonieorchester ruft deshalb Ticket-Käufer dazu auf, den Betrag zu spenden. Und es traf schliesslich auch das Lucerne Festival, dessen erste Ausgabe des neu geschaffenen Konzert-Wochenendes Anfang April abgesagt wurde. Die finanziellen Auswirkungen kann das Festival noch nicht abschätzen. «Das Verbot von Bund und Kanton ist eine radikale Entscheidung, aber es geht darum, das Virus jetzt möglichst rasch und effektiv einzudämmen und auch die Angehörigen der Risikogruppen unter uns nachhaltig zu schützen», sagt die Kommunikationsbeauftragte Nina Steinhart.

Auch die Museen sind inzwischen alle zu. Das trifft das Kunstmuseum hart, weil die Ausstellungen nicht verlängert oder verschoben werden können. Oder das kleine Chäslager in Stans. Für die Konzert-Absagen müsse das Kulturhaus haften, sagt dessen Leiter Rene Burrell. «Falls diese Situation länger andauern sollte, müssten wohl Gespräche geführt werden.» Das Luzerner Theater hat inzwischen sogar Proben abgesagt, nur die Aufführungen der Serie «Taylor AG» in der Box wurden als Livestream weiter gezeigt. Das Theater Stans wurde mitten in den Aufführungen von «Nochmals Charley!» von der Situation überrumpelt. Eifrig wurde nach einer Lösung gesucht und es konnte zunächst mit einer reduzierten Auslastung von noch 150 Besuchern weitergespielt werden. Der erwartete Verlust: über 10000 Franken. Aber das war noch, bevor die letzten Aufführungen ganz ins Wasser fielen.

Solidarität alleine reicht nicht

Wer entschädigt Kulturhäuser und Musikerinnen für wegbrechende Einnahmen? Was bedeutet es, wenn die Absage einer höheren Gewalt geschuldet ist? Es sind existenzielle Fragen. Denn mit Solidarität alleine ist der Kulturszene nicht geholfen. Inzwischen schnürt der Bundesrat Milliarden-Pakete für die Wirtschaft, auch Selbstständigen soll geholfen werden. Ob davon auch die Kultur profitiert? Vertreter der Schweizer Kulturszene trafen sich mit den Bundesbehörden, um die Kulturlandschaft mit ihren Bühnen, Arbeitsplätzen und Veranstaltern zu erhalten. «Schnell greifende Massnahmen sind nötig, um Schäden wegen der ‹Coronakrise› zu verhindern oder zumindest abzumildern, welche die Branche im Speziellen, aber auch die wirtschaftliche Entwicklung des ganzen Landes nachhaltig treffen kann», lautet die Forderung. Es brauche Kompensation für abgesagte Gagen, unkomplizierte Kurzarbeit, eine Notfall-Kasse für bedrohte Kulturschaffende und -betriebe.

Die Kultur ist noch immer ein unterschätzter Wirtschaftszweig. Obwohl sie mehr Geld umsetzt als die Industrie, mehr Publikum anzieht als alle Sportanlässe im Land. Die IG Kultur hat ein Merkblatt verfasst, mit dem Kulturbetriebe einen Antrag auf Kurzarbeitsentschädigung stellen können. Eine nationale Petition wurde gestartet mit Forderungen an den Bundesrat: ein Entschädigungsfonds für alle, deren Einkommen unter der Absage von Shows leiden – also Showtechniker, Musikerinnen oder Künstler. Die Musikverbände warnen in einer Mitteilung vor einer «wirtschaftlichen Katastrophe». Gagenausfälle würden selbstständige Musikschaffende rasch an den Rand der Existenznot führen.

Wir erleben gerade einen Frühling, dem möglicherweise ein Sommer ohne Kulturveranstaltungen folgen wird – eine so nötige wie groteske Situation. Anlässe wie das B-Sides, das Blue Balls Festival, Jazz Festival Willisau oder das Sommerfestival des Lucerne Festival sind gefährdet. Wenn das Ganze etwas Gutes hat, dann dies, dass die Gesellschaft zusammen und für die Kultur einsteht. Es ist zu hoffen, dass der erzwungene Lockdown die Wichtigkeit von lokaler Kultur abseits von Netflix vor Augen führt.