Kein Geld für Kulturnomaden

In der Schweiz legt der Kantönligeist Kunst- und Kulturschaffenden mit Migrationshintergrund und Bewegungsfreude unnötig Steine in den Weg. Dabei könnten diese Menschen wertvolle Perspektiven in das hiesige Kulturwesen einbringen.

Illustration: Marina Lutz

Vor drei Jahren wollte ich ein Buch schreiben. Über die Schweiz. Das Land war so faszinierend anders als alle anderen, in denen ich bisher gelebt hatte. Die ersten Kapitel schrieb ich wie im Rausch. Dann legte ich das Projekt auf Eis. Die Faszination ist noch da, aber der richtige Zeitpunkt zum Schreiben ist verflogen. Was dies mit der hiesigen Förderung von Kulturschaffenden zu tun hat, die nicht hierzulande geboren und nicht für immer am gleichen Ort zu leben beschlossen haben? Hier die Antwort.

Ich bin nicht förderungsfähig, musste ich feststellen. Weil ich nicht «von hier» bin.

Das 041 lese ich immer vom Ende her, also fast vom Ende. Ich fange an mit der Seite mit den Ausschreibungen. Als ich nach Luzern gezogen bin und das lokale Kulturmagazin zu lesen begann, wollte ich mich überall bewerben. Ich fühlte mich wie eine Sprinterin in den Startblöcken. Gerade mit einem Studium des Kulturmanagements an der HSLU begonnen, war ich voller Tatendrang.

Eine genauere Lektüre der Teilnahmekriterien liess meine Begeisterung jedoch rasch schwinden. Die Dusche war eiskalt. Ich bin nicht förderungsfähig, musste ich feststellen. Weil ich nicht «von hier» bin. Auf den ersten Schock folgten einige kritische Gedanken: Ist die Gnade der Geburt ein Organisationsprinzip der Schweizer Kulturpolitik? Ich dachte, Kulturschaffende seien Weltbürger, die nicht in diesen engen Rahmen passen müssen. Ich erkannte: Wer nicht mit der «richtigen» Geburtsurkunde gesegnet ist, kann durch einen örtlichen Wohnsitz begnadigt werden. Drei Jahre Ortsansässigkeit lautet oft das alternative Förderkriterium. Ich rechnete. Im Februar bin ich nach Luzern gezogen.

2020 + 3 = _________

Im Jahr 2023 werde ich förderungswürdig sein! Bis dahin bleibe ich in Kulturquarantäne. Gemeinsam mit mir sitzen dort noch andere «Förderungsunwürdige». Wir sind «Kantonsfremde». Menschen also, die zugezogen sind. Ausnahmsweise geht es dabei nicht um Landesgrenzen. In puncto Kulturförderung scheint alles ausserhalb des Kantons bereits als Fremdland zu gelten.

In puncto Kulturförderung scheint alles ausserhalb des Kantons bereits als Fremdland zu gelten.

In jeder Gesellschaft gibt es Widersprüche. Mobilität ist das, was die Schweiz prägt: Tausende pendeln zur Arbeit oder ziehen gleich an ihren viele Kilometer entfernten Arbeitsplatz. In der Freizeit geht man wandern und erklimmt Berge. Plötzlich jedoch scheint in dieser mobilen Welt Mobilität ein Nachteil zu sein. Und das ausgerechnet im Kulturbereich.

Zur Autorin:

Emilia Roza Sulek ist eine Nomadin. Ihr bewegtes Leben führte sie immer wieder in unterschiedliche Welten: Geboren ist sie in Warschau, wo sie Ethnologie und Kulturwissenschaften studiert hat. Promoviert wurde sie in Berlin. Geforscht hat sie unter Nomaden in Tibet. Ein Buch darüber publiziert hat sie in Amsterdam. Inzwischen lebt sie in Kriens und unterrichtet an den Universitäten Bern und Zürich. Derzeit forscht sie zur Neuen Seidenstrasse in Zentralasien und Europa, schreibt und entwickelt Kulturprojekte in der Schweiz.    

Dabei sind die Kulturschaffenden doch eigentlich genau das: mobil. «Sie essen Brot aus vielen Öfen», wird in meiner Muttersprache über zeitgenössische Nomaden und Abenteurer gesagt. Auf dem Arbeitsmarkt wird Mobilität als Zeichen für Dynamik und Flexibilität geschätzt. Sie zeigt Bereitschaft, neue Herausforderungen anzunehmen. Sind diese Kriterien für den kantonalen Kulturbetrieb nicht relevant?

Jede Kulturinstitution hat das Recht, ihre Türe aufzureissen oder nur einen Spalt weit zu öffnen, die Hürde auf diese oder jene Ebene zu stellen und zu beobachten, wer springen kann und wer sich die Beine bricht. Ich hinterfrage dieses Recht nicht. Als Ethnologin frage ich aber, was dahintersteckt: Warum sollen gerade drei Jahre jemanden «einheimisch» und somit förderungswürdig machen? Ist diese Zeit notwendig, um den Kantönligeist hervorzurufen? Setzt ein qualitativer Wandel ein? Findet eine Initiation statt?

Stellen wir uns eine andere Situation vor. Sagen wir, ich möchte meine Forschungsprojekte in der Schweiz fortsetzen. Eine Förderstelle weist mich aber ab: «Es tut uns leid, wir fördern nur lokal geborene Forschende. Sie können sich aber in drei Jahren bewerben.» Unvorstellbar, oder? Bis dahin kann das Forschungsthema seine Aktualität verlieren! Die Förderung der Wissenschaft erkennt das und funktioniert darum anders. Kulturförderung ist aber kantonal geregelt, ja oft genug sogar auf der Ebene der Gemeinden. Die Gründe dafür bleiben mir ein Rätsel.

Das berüchtigte Wort «Bezug»

Jetzt aber die gute Nachricht: Es gibt ein Seitentürchen. Für diejenigen, die sich in einem Kanton um Kulturgelder bewerben wollen, in dem sie weder geboren sind noch drei Jahre lang leben. Es ist mit dem Schild «BEZUG» gekennzeichnet. Bis vor Kurzem verwendete ich «Bezug» nur in Amtssprache. Jetzt muss ich mich mit diesem Wort im Alltag anfreunden: Hätte mein Kulturprojekt nämlich «Bezug zur kantonalen Kultur», wäre ich eventuell förderungswürdig. Doch schon wieder eine Frage, die ich nicht beantworten kann: Was bedeutet «kantonale Kultur»?

Das föderale Denken in Bezug (sic!) auf Kultur scheint fragwürdige künstliche Kategorien zu reproduzieren, was wiederum zur bürokratischen Ausgrenzung beiträgt.

Wird sie symbolisch durch das Blut der hier Geborenen definiert? Das wäre ein aufregender Anachronismus! Geht es um gesetzlichen Wohnsitz? Dann wäre die «kantonale Kultur» eine rein bürokratische Kategorie. Wird sie als Summe bestehender Kulturinstitutionen verstanden? Dann wäre sie ein Sammelbegriff. Oder geht es um bevorzugte künstlerische Formen und Themen? Ich wandte mich mit meinen Fragen an Instanzen, die es eigentlich wissen müssten: zwei Gastredner, die ich im Rahmen meines Kulturmanagementstudiums kennenlernte. Der eine war in der Kulturverwaltung in Aarau tätig, der andere im gleichen Bereich in Zug. Bei der Definition der «kantonalen Kultur» stiessen sie allerdings auf Schwierigkeiten. Mit entwaffnender Ehrlichkeit nannten sie zwei eher verlegene Beispiele: die (Aargauer) Rüebli- und (Zuger) Kirschtorte. Zweifellos gibt es in beiden Kantonen mehr Kultur als jene aus Konditoreien. Die Antworten wichen der Frage aus, eben weil sie nicht einfach zu klären ist. Es sei denn, wir sprechen von rein kommerziellen Kulturprodukten. Die inhaltliche Definition ist schwierig.

Die «kantonale Kultur» scheint eine bürokratische Illusion zu sein, die ins Leben gerufen wurde, weil die Kultur kantonal verwaltet wird. Illusionen im Leben sind wichtig, aber sie zu hinterfragen und manchmal aufzugeben, kann auch Gutes bewirken. Das föderale Denken in Bezug (sic!) auf Kultur scheint fragwürdige künstliche Kategorien zu reproduzieren, was wiederum zur bürokratischen Ausgrenzung beiträgt. 

Kantonsfremde als Ressource

Es ist ein Privileg von Neuankömmlingen (egal woher sie kommen), ihr neues Umfeld mit Neugierde zu beobachten und bewusst zu erfahren. Und genau das faszinierend zu finden, was für Alteingesessene «normal» ist. Kulturschaffende und Ethnologinnen teilen die Fähigkeit, Selbstverständliches zu hinterfragen und bereits Verinnerlichtes noch einmal sichtbar zu machen. Das kann irritierend sein, aber es erlaubt auch einen Blick über den Tellerrand. Wenn man «neu» ist, nimmt man alles sehr intensiv wahr. Geht man davon aus, dann können die «Kantonsfremden» durchaus zur lokalen Kultur beitragen. Und man sollte nicht warten, bis der neugierige Glanz aus ihren Augen verschwunden ist. Besteht das Ziel der Kulturpolitik tatsächlich darin (und darin sollte es doch bestehen), nach klugen Köpfen mit frischen Ideen zu suchen, sollte man diese auch entsprechend fördern.

Der neutrale Status der Schweiz zog Wissenschaftlerinnen, Freiheitskämpfer, Künstlerinnen und Entdecker aus aller Welt an.

Die Schweiz hat auf diesem Gebiet eine gute Bilanz. Ihr neutraler Status zog Wissenschaftlerinnen, Freiheitskämpfer, Künstlerinnen und Entdecker aus aller Welt an. Niemand zweifelt heute an ihrem Beitrag. Warum nicht so weitermachen? Wäre ich eine Entscheidungsträgerin in einer Kulturinstitution, würde ich die Hürde niedriger setzen oder ein massgeschneidertes Programm für jene ins Leben rufen, die noch nicht so richtig «von hier» sind. Denn kulturelle Entwicklung findet nicht durch Ausgrenzung, sondern durch Öffnung statt.

Aber ich bin keine Entscheidungsträgerin. Ich bin ein Mensch in Kulturquarantäne. Drei Jahre warten. Drei Jahre, in denen sich die Welt komplett verändern kann. «Einen Finger am Puls der Ereignisse halten», heisst es im Polnischen, meiner Muttersprache. In drei Jahren wird die Welt anders pulsieren. Wie wirkt sich die Kulturquarantäne auf Ideen aus? Wie ein Brutkasten, denken nun vielleicht manche. Oder ein Gefrierschrank. Ein Schredder. Das mit dem Buch über die Schweiz ist jetzt passé. Was aus meinen anderen Ideen wird, zeigt sich dann im Februar 2023.