Kampfplatz der Sprache

Spielleute Pavillon, 9.1.2014: Mit «Der Krieg hat kein weibliches Gesicht» wird nach zwei Adaptionen die erste Eigenproduktion des Ensemble Nawal aufgeführt. Ein so wagemutiges wie anspruchvolles Experiment, das sich viel vornimmt und dem Publikum gleichzeitig eine Menge abverlangt.

Nach knapp eineinhalb Stunden am Stück erlöst Lichtdesigner Martin Brun das Nawal-Ensemble ins finale Black. Eine Pause scheint in diesem rhetorischen und emotionalen Marathon unangebracht, würde sie dem Zuschauer doch lediglich diejenige Erholung bieten, die man angesichts der Thematik nicht verdient. Swetlana Alexijewitsch hat in «Der Krieg hat kein weibliches Gesicht» (1987 erstmals auf Deutsch erschienen) hunderte Interviews mit Frauen geführt, die im zweiten Weltkrieg die rote Armee unterstützt haben und dabei ein unheroisches moralisches Gedächtnis zu erstellen versucht. In der Theaterinszenierung von Reto Ambauen wurden die Äusserungen einzelner Frauen neu angeordnet, komprimiert und bilden auf der Bühne einen unabgeschlossenen Raum der Diskussion, der so die fragmentarischen Identitäten von Kriegstraumatisierten hervorhebt. Dem wird der kämpferische Macho-Elan aus Shakespeares «Heinrich V.» entgegengesetzt, der mitunter wie ein Fremdkörper in die weibliche Subjektivität hereinbricht. Trotz der fehlenden Pause zeichnet sich das von Reto Ambauen inszenierte Stück also durch Elemente des Unterbruchs und der Heterogenität aus. Denn die weibliche Sicht auf den Krieg sowie das männliche Treiben um den Krieg herum sind in der Inszenierung unversöhnlich, die Spieler und Spielerinnen treffen ausschliesslich in Szenenübergängen und Gesangseinlagen aufeinander, in transitorischen Momenten also. Ein zugespitzter Geschlechterkampf, der besonders über Erinnerungen und deren sprachliche Aufbereitung läuft.

«Wie viel Mensch ist so ein Mensch (ein Soldat / eine Soldatin, die im Krieg andere töten, Anm. H.W.) eigentlich?» fragt Andrea Kammermann als Swetlana Alexijewitsch, die als Hauptfigur die ehemaligen Kämpferinnen um sich schart und sich als «Historikerin der Seele» versteht. Eine ihrer Interviewpartnerinnen (Mira Heller) antwortet mit wechselndem Fingerabstand «Vielleicht so viel …, vielleicht so viel …, vielleicht so viel …» und führt so die Frage gleichsam ad absurdum. Verallgemeinerungen bezüglich der Humanität im Krieg haben hier nichts verloren, nur eines ist klar: dass gar nichts klar ist. Die Inszenierung stellt sich nicht in den Vordergrund und versucht nicht auf eine allgemeine These hinzuarbeiten, sondern gibt den einzelnen Frauenstimmen genügend Platz, ihre ganz eigene Sicht auf den Krieg zu schildern. Auf diese Weise liegt die Verantwortung grösstenteils bei den Laiendarstellerinnen, die das Bühnendeutsch klarerweise nicht perfekt beherrschen, jedoch eine ansonsten spielerisch vorzügliche Leistung abliefern.
Kontrastierend sorgen die Shakespearschen Verse, die ebenfalls durch eine Komprimierung und Neuanordnung von Szenen (aus «Heinrich V.» von Shakespeare) zustande gekommen sind, eher für gradlinige Unterhaltung. Florian Fischer, Marcel Grüter und Philipp Schönholzer spielen abwechselnd adlige Heerführer oder einfache Soldaten und überzeugen mit ihrer unterhaltsamen, überspitzt männlich-proletenhaften Spielweise. Die Rhetorik von Shakespeare setzt hier vor allem einen sprachlichen Gegensatz zu den weniger artifiziell gestalteten Äusserungen der russischen Kriegsveteraninnen. Unterstrichen werden die sprachlichen Kämpfe von Christov Rolla, der mittelenglische Stücke sowie Volks- und Kampflieder gleichermassen nahtlos integriert. Bezüglich des Bühnenbildes wurde eine äusserst reduzierte Form angestrebt, eine Holzbeige, ein paar Stühle, ein Tisch, eine Matratze und eine Harfe bleiben über das ganze Stück hinweg gleich positioniert und fungieren als statischer Hintergrund. Stellenweise findet zwar Interaktion mit den Requisiten statt, der Fokus liegt jedoch ganz klar auf einer sich auf die Spieler & Spielerinnen verlassende Inszenierung. Durch die Dialektik der Eigenproduktion, die weibliche und männliche Szenen aufeinander folgen lässt, ist der Zuschauer gezwungen, fortwährend die beiden Seiten gegeinander abzuwägen und wird auf intellektueller und emotionaler Ebene gleichsam herausgefordert. Ein durchweg gelungenes Experiment, das den Raum für Fragen offenlässt.
 
Weitere Aufführungen / Informationen / Tickets Inszenierung: Reto Ambauen Musik: Christov Rolla; Ausstattung: Ruth Schürmann; Kostüme: Werner Duss; Bühnenbau: Beni Egli; Regieassistenz: Fabienne Walter und Elsbet Saurer; Lichtdesign: Martin Brun; Grafik-Bühne: Ruth Schürmann; Sprechtraining: Silvia Planzer; Produktionsleitung: Irene Wespi. Spielerinnen und Spieler: Florian Fischer; Virginia Gisler; Marcel Grüter; Mira Heller; Andrea Kammermann; Zora Schelbert; Philip Schönholzer; Susanne Meier Richli; Anna Stammler (Stimme).