Judith Keller: Die verkannte Romancière

Judith Kellers Romandebüt wird in einem kurzen Schreiben vom Verlag abgelehnt – mit diesem beginnt ihr Werk «Oder?». Dieses scheint eine Sammlung von Worten zu sein, die sich nur scheinbar zu einer Geschichte fügen – und entpuppt sich dann doch als mehr.

Bild: Ayse Yavas

Dieser Artikel erschien in unserer Aprilausgabe. Hier 041 – Das Kulturmagazin abonnieren!

Der Zufall war Programm bei Judith Keller: An Lesungen zog sie Zettel mit Kurzerzählungen aus einem Zylinder, die Kürze der Prosa war das Kennzeichen ihres Debüts «Die Fragwürdigen». Jetzt, knapp vier Jahre später, legt die in Schwyz aufgewachsene Autorin ihren ersten Roman vor. Wie Kellers erstes Werk erscheint «Oder?» in der edition spoken script des Gesunden Menschenversands.

«Oder?» ist ein Roman, der im Grunde gar kein Roman ist, wie ein eingangs abgedrucktes E-Mail des Luzerner Verlegers Matthias Burki nahelegt – er lehnt dann auch das Manuskript dankend ab. Und so wird in der Folge der Roman ausgerollt, wie eine Rechtfertigung für die Genre-Bezeichnung und für das gedruckte Produkt, das die Lesenden nun in den Händen halten.

Kellers Poetik huldigt der Kürze, dem Wortspiel, den flüchtigen Gedanken. Dies war beim Erstling so und setzt sich in «Oder?» nahtlos fort. Neu ist jedoch, dass die Miniaturprosa zusammenhängend zu funktionieren vorgibt. Manche der Texte könnte man noch immer problemlos aus dem Hut ziehen, sie würden funktionieren. So etwa eine Kurzerzählung «Halt des Nachtzugs», die vor zwei Jahren in der «041 – Literaturpause» abgedruckt war. Diese Fragmente in einer stimmigen Dramaturgie zu präsentieren ist mitunter eine Stärke der Autorin.

Diese Arbeitsweise trägt der Autorin nicht zu Unrecht den Vorwurf ein, zu verkopft zu sein.

Judith Kellers Roman ist ein Spiel – mit Sprache, mit Form, mit der Leserschaft, Genres sowie der Darstellung und Typografie. Keller zeigt uns die Produktion von Text, mehr noch als sie uns den Text zeigt. Neben Verlags-E-Mails kommt der Lektor zu Wort, sie präsentiert ein Theaterstück, das vor unseren Augen mehrfach überarbeitet wird. Die Textarbeit wird für einmal sichtbar gemacht – aber ist das schon Literatur oder noch ein Manuskript?

Und immer wieder die Unsicherheit: Gehören diese Textbausteine wirklich zusammen, nur weil sich Namen und Orte wiederholen? Wird hier eine Geschichte erzählt? Oder entstehen die Zusammenhänge zwischen den Fragmenten bloss in unseren Köpfen?

Diese Arbeitsweise trägt der Autorin nicht zu Unrecht den Vorwurf ein, zu verkopft zu sein. Denn der Geschichte zu folgen, die hinter all den Spielereien steckt, ist nicht einfach. Zu aufwendig stört uns die Autorin selbst in diesem Vorhaben. Zeigt sich hier eine Neukonzeption von Romanen oder ein Scheitern am Erarbeiten eines solchen? Lapidar mit einem Einzeiler Kellers geantwortet: «Romane sind eh langweilig.»

Judith Keller: Oder?

Roman. Der gesunde Menschenversand, 2021.

280 Seiten, Fr. 27.00