Jenseits der Familienidylle

Dass auch Familien nicht frei von Abhängigkeiten und Machtstrukturen sind, zeigt die französisch-schweizerische Regisseurin Ursula Meier in ihrem neuen Film. «La Ligne» ist ab Februar im Kino zu sehen.

Blumen samt Vase, Flaschen und Schallplatten fliegen in Zeitlupe gegen die Wand. Notenblätter wenden sich schwungvoll in der Luft und gleiten langsam zu Boden. Gleich zu Beginn des Familiendramas «La Ligne» inszeniert die französisch-schweizerische Regisseurin Ursula Meier den eskalierenden Streit zwischen Mutter und Tochter als zentrales Moment der Erzählung. Entschleunigt und mit klassischer Musik unterlegt, gleichen wütende Gesichter und aneinander zerrende Körper einem schwerelosen Tanz.

Im nächsten Moment wird Margaret (Stéphanie Blanchoud) aus dem Haus ihrer exzentrischen Mutter Christina (Valeria Bruni Tedeschi) geworfen. Obwohl ihr Gesicht voller Blessuren ist, muss sie sich vor der Polizei dafür verantworten, auf ihre Mutter eingeschlagen zu haben. Auf die Anzeige folgt ein Kontaktverbot, wobei sich die Tochter während drei Monaten dem Haus ihrer Familie nicht mehr als 100 Meter nähern darf. Von Beamt:innen in einem Streifenwagen eskortiert, darf sie noch das Nötigste einpacken, dann tritt die Regel in Kraft. Am Rande einer trüben und mit erstem Schnee bedeckten kleinen Gemeinde, irgendwo im Walliser Rhonetal, steht Margaret nun alleine da.

Wie in ihrem letzten Spielfilm «Winterdieb» (2012) zeigt Ursula Meier auch diesmal eine unkonventionelle Familienkonstellation. Im Rahmen der letztjährigen Berlinale erläuterte die Regisseurin, dass sie mit der Figur der Margaret eine Frau in den Mittelpunkt stellen wollte, die körperliche Gewalt ausübt. Dabei soll aber nicht häusliche Gewalt als patriarchales Phänomen infrage gestellt werden. Vielmehr untersucht das Drama, unter welchen Umständen sich ein Mensch dazu gezwungen sieht, einer Situation mit Gewalt zu begegnen. So werden die Machtstrukturen und die daraus resultierenden Abhängigkeiten innerhalb der Familie thematisiert.

Schwesterlicher Treffpunkt

Im Kreis der Familie ist Christina jene Figur, um die sich alles dreht. Von ihren drei Töchtern fordert sie bedingungslose Liebe, um ihnen im nächsten Augenblick den Rücken zu kehren. Nach aussen versucht sie den Anschein ewiger Jugend zu wahren. Sie will begehrt werden und sucht sich einen viel jüngeren Partner. Insgeheim macht sie Margaret für das Scheitern ihrer Karriere als Musikerin verantwortlich. Die Schauspielerin Valeria Bruni Tedeschi verleiht dieser narzisstischen Figur eine verspielte Selbstverliebtheit, mit der sie die Zuschauer:innen in ihren Bann zieht. So etwa in der Szene, in der Christina den Verkauf ihres geliebten Flügels dramatisch inszeniert. Vor aller Augen lässt sie sich nicht davon abhalten, im bunten Kimono auf den Transportanhänger zu steigen, um ein letztes Stück zu spielen.

Die jüngste Tochter ist vom Talent der Mutter fasziniert und gleichzeitig innerlich zerrissen durch den Familienstreit. Sie ist es, die in Christinas Auftrag mit blauer Farbe die titelgebende Linie rund um das Haus zieht. Bei dieser Grenze handelt es sich einmal mehr um eine Machtdemonstration der Mutter, die sichtbar festlegt, wie weit sich Margaret ihrer Familie nähern darf. Doch die eigentliche Trennlinie wird bald zum schwesterlichen Treffpunkt. Schliesslich ist es Margaret, die sich mütterlich um ihre jüngere Schwester kümmert und sie mit Verstärker und E-Gitarre auf dem offenen Feld bei ihren Gesangsübungen unterstützt. Aus der Ferne wacht Margaret über ihre Familie, trotz dem Versuch der Mutter, sie auszuschliessen.

Margarets Bemühungen, ihrer Schwester trotz aller erzwungenen Distanz nahe zu bleiben, sind zutiefst nachvollziehbar und rührend. In «La Ligne» thematisiert Ursula Meier jene emotionale Abhängigkeit, die mit Beziehungen einhergeht, so zerstörerisch sie auch sein mögen. Gleichzeitig stellt sie ihren starken weiblichen Figuren eine gemeinsame Leidenschaft zur Seite: Die Musik wird zum verbindenden Element, gleicht einem Ventil für jenen Schmerz, den die Charaktere in sich tragen.

Ursula Meier: La Ligne
CH/FR/BE 2022, 102 Min.
Ab DO 16. Februar im Kino

 


041 – Das Kulturmagazin
Januar/Februar 01+02/2023

Text: Sheryl Lustenberger

ABOOOOOO JA...

Wir brauchen dich. Wir brauchen dich, weil Journalismus kostet. Und weil wir weiterhin ausgewählte Beiträge auf null41.ch für alle kostenlos zugänglich machen wollen. Deshalb sind wir auf deine Unterstützung als Abonnent:in angewiesen. Jedes einzelne Abo ist wertvoll und macht unser Schaffen überhaupt erst möglich. Wir freuen uns auf dich und deine Bestellung über unseren Online Shop. Herzlichen Dank.