Inventar eines Lebens

Kleintheater Luzern, Mittwoch, 14.10.2015: Das autobiografische «Winterjournal» des US-amerikanischen Kultautors Paul Auster wird von der Werkstatt für Theater als Jubiläumsproduktion zu ihrem 25-jährigen Bestehen auf die Bühne gebracht. Ein grosser Monolog für Schauspieler Michael Wolf mit Julien Kilchenmann am Cello. Schön dicht und intensiv. Beeindruckend.

(Bilder: Sepp de Vries)

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Auf dem Bühnen-Boden liegt ein Haufen Sand. Es kann der Sand im Sandkasten der Kindheit sein, er wird in Schnee verwandelbar. Und leise rieselt der Schnee als Sandstrahl einmal aus einem Loch in der Wand. Die Zeit zerrinnt, buchstäblich tut sie es zwischen den Fingern. Die Bühne ist reduziert, kommt mit wenig aus, mehr braucht es nicht: 2 Stühle, ein Wandteil mit oben und unten abschliessendem Wellenband-Fries, dazu Requisiten: ein Sandkasten-Rechen, ein Playmobil-Männchen in Penis- bzw. Feuerwehrmanngestalt, Fotos von 21 Wohn- und Lebensorten (eine Auswahl davon wird an die Wand gehängt), eine Spieluhr, eine Glühbirne; einmal trinkt man Kaffee. Die Wand dient als Zeichenbrett: Eine grosse Migrationsbewegung wird aufgezeigt – von Afrika nach Europa, oder mal die Körpergrösse des Erzählenden als kleiner Knirps (Ausstattung: Anna Maria Glaudemans). Der Rest ist Text bzw. Sprache. Plus Musik. Das Spiel von Michael Wolf trägt das «Winterjournal», das Stück geworden ist. Ihm Gegenüber am Cello Julien Kilchenmann. Das Prinzip Musikalität, wie sie im Text steckt, ist hier praktisch realisiert, Entsprechung zum Textfluss. Und, so die Regie-Idee, das Cello verkörpert sozusagen die Körperlichkeit: «Das Violoncello ist ein Instrument, das die Körperlichkeit des Spielers in besonderer und intensiver Weise sinnlich erlebbar macht.» (Regisseur Livio Andreina)

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Auffällig die besondere Erzählposition. Es ist die Perspektive eines Du, eines mehr-, mindestens dreifachen Du: Im Buch und auf der Bühne als Publikumsgegenüber, hier im Spiel der Mann am Cello als «Ansprechsperson» bzw. Dialogpartner – und freilich handelt es sich bei diesem Du letztlich um das Er, also das Ich des Erzählers. Das Buch «Winterjournal», im Original 2012 erschienen (da war Paul Auster 65), kennt keine Gattungsbezeichnung. Es ist, wenn man es liest, Autobiografie. Eine besondere zudem, gestaltet als eine Art Bewusstseinsstrom aus Erinnerungen und Reflexionen. Das Leben des bekanntlich erfolgreichen Autors Paul Auster erscheint in seinen beschädigten Facetten, es ist, wie geschrieben wurde, die «Biografie des eigenen Körpers». Annehmlichkeiten natürlich auch, aber mehr Gebresten und Lädierungen. Die Spielfassung ist, so Andreina, «eine poetische Essenz» des Textes, auf der Bühne gegliedert in 15 szenischen Bildern, etwa Kindliches aus ganz frühen Jahren, «Das Inventar deiner Narben», «Dein Körper in grossen und kleinen Räumen», «Tod der Mutter». So fängt es an, im Buch und auf der Bühne: «Du denkst, das wird dir niemals passieren, das kann dir niemals passieren, du seist der einzige Mensch auf der Welt, dem nichts von alldem jemals passieren wird, und dann geht es los, und eins nach dem anderen passiert dir all das genau so, wie es jedem anderen passiert.» Das Du wird nicht verschont, es gibt keine Extrawurst.

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Was folgt, ist, natürlich, Verdichtung, Auswahl, Konzentration, das heisst auch: Intensivierung. Es hält über die ganze Dauer des Theaterabends. Regisseur Livio Andreina hat Austers Text für die Bühne eingerichtet. 250 Druckseiten sind zu gut fünf Viertelstunden Theater geworden. Paul Auster hat übrigens höchstpersönlich sein Okay zur schweizerischen Erstaufführung von «Winterjournal» gegeben. Am Schluss fällt Schnee, federleicht, und der Satz: «Du bist in den Winter deines Lebens eingetreten.»

Werkstatt für Theater«Winterjournal», nach dem Buch von Paul Auster Livio Andreina (Regie/Dramaturgie), Michael Wolf (Schauspiel), Julien Kilchenmann (Violoncello), Anna Maria Glaudemans (Ausstattung), Martin Brun (Lichtdesign) Kleintheater Luzern, weitere Aufführungen: Fr/Sa, 16./17. Oktober, 20.00