Im Rampenlicht

Rosmarie Baltensweiler hat mehrere Designklassiker entworfen. So auch die Leuchte «Type 60 S», die auf dem Schreibtisch unserer Autorin steht. Wer war die Luzerner Designerin, die nie die öffentliche Aufmerksamkeit suchte?

Seit ich denken kann, ist sie da: die Schreibtischlampe des Vaters. Als Kind kommt sie mir wie das Skelett eines einbeinigen Vogels vor, der seinen Kopf in alle Richtungen drehen kann. Dort, wo er hinschaut, ist Licht; der Rest bleibt im Dunkeln. Lange steht sie auf Vaters Arbeitstisch. Sie beleuchtet meine ersten Schreibversuche auf seiner mechanischen Olympia. In ihrem Lichtkegel lerne ich, wie aus Buchstaben Wörter werden und aus Wörtern Geschichten. Wenn ich einen Satz genauer anschauen will, richte ich den Schirm. Dass sich etwas so einfach bewegen lässt und trotzdem hält, fasziniert mich. Irgendwann wird sie ersetzt und landet im Bastelkeller. Dann, viele Jahre später – ich bin schon lange aus dem Elternhaus aus- und in eine andere Stadt gezogen –, nehme ich sie zu mir, die Schreibtischlampe des Vaters, eher als Souvenir denn als Sammlerstück. Noch weiss ich nichts von ihrer designhistorischen Bedeutung und von ihrem Wert auf dem Vintagemarkt. In der Sammlung des Bundes ist sie unter der Archivnummer CH-1989-0542 und der Bezeichnung «Type 60 S» registriert, gemäss Beschreibung eine allseitig bewegliche Tischleuchte, einfach, elegant und praktisch. «Eine original Baltensweiler», sagen kundige Kolleg:innen anerkennend, wenn sie mein Büro betreten, und fragen: «Woher hast du die?»

Für alle erschwinglich

Der Name Baltensweiler steht für siebzig Jahre Schweizer Leuchtendesign, für formale Ästhetik, technische Qualität und für ein nachhaltig erfolgreiches Familienunternehmen mit Sitz in Luzern.

Am Anfang und vor dem Namen stehen zwei Vornamen: Rosmarie und Rico. Die Innenarchitektin und der Ingenieur begegnen sich Ende der 1940er-Jahre; sie beginnen gemeinsam zu entwerfen und die Entwürfe umzusetzen. Eine 1951 zunächst für den Eigengebrauch gedachte Stehleuchte, die «Type 600», wird schnell zum internationalen Erfolg. Le Corbusier bezeichnet sie als ideales Objekt für sein Konzept des nomadischen Wohnens, weil sie leicht und zerlegbar ist, und übernimmt sie für die Einrichtung seiner Musterwohnungen; die «New York Times» zeigt sie in einer Reportage; in München wird sie in der Neuen Sammlung ausgestellt und in der Schweiz ziert sie das Titelblatt vom «Warenkatalog des Schweizerischen Werkbundes». Abgeleitet von diesem Entwurf entwickelt das inzwischen verheiratete Paar Tisch- und Arbeitsleuchten, die ebenfalls auf grosse Resonanz stossen. Im Wohnatelier wird Tag und Nacht produziert, zwischen Kinderbetreuung und Freund:innenbesuch und oft am Ende der Kräfte. Bis in die 1970er-Jahre bieten die Baltensweilers ihre Produkte zu günstig an. Es ist ihnen wichtig, dass alle sich eine praktische Leuchte leisten können. Gute Gestaltung, so ihre Überzeugung, verbessert das Leben der Menschen und letztlich auch den Menschen selbst.

Frau Baltensweiler

Ich bin Rosmarie Baltensweiler in einem PDF begegnet. 268 Seiten, 530 Abbildungen, gestaltet von Megi Zumstein und im Druck, während ich das hier schreibe. Sie schaut mich an. Ihr Blick ist wach, ihre Haltung die einer Zuhörenden, der Zeigefinger bereit, mich freundlich, aber bestimmt auf ein Entwurfsdetail hinzuweisen. Sie lacht. Gleich wird sie mir etwas erklären, zugewandt und mit trockenem Witz. Sie ist das Zentrum der Familie und der Motor der Firma. Max Bill, für den sie nach ihrer Ausbildung an der Kunstgewerbeschule in Zürich gearbeitet hat, schreibt ihr 1952 in einem Brief: «Sie sind so ganz im Stillen von Fräulein Schwarz zu Frau Baltensweiler übergewechselt.» Als solche stellt sie sich in den Hintergrund, überlässt ihrem Mann die Bühne. Sie ist eine Gestalterin, die beobachtet und fragt, integral denkt und den Ideen der Moderne treu bleibt. Sie weiss, was sie kann, und braucht die öffentliche Anerkennung nicht.

1985, wenige Monate bevor Rico Baltensweiler überraschend an einem Hirnschlag sterben wird, zeichnet ihn die Stadt Luzern mit dem Kunstpreis aus. Rosmarie wird mit keinem Wort erwähnt, weder in der Laudatio noch in den Medien. Niemand interveniert, alle schämen sich, im Nachhinein, bis heute. Ihr ist das egal, sie hat anderes zu tun, ein grosses Bauprojekt steht an. 2019, kurz vor ihrem Tod, erhält sie vom Bund den Schweizer Grand Prix Design. Ob es nicht besser wäre, diesen grossen Preis einer jungen Person zu geben, fragt sie und freut sich dann doch.

Design leben

Ich weiss jetzt, woher die Schreibtischlampe des Vaters kommt, wer sie zusammengesetzt, das Kabel durch das Gestänge gezogen und die Schrauben eingedreht hat, was die Entwurfsidee war, wie sie weiterentwickelt wurde und warum ein Student sich 1964 eine solche Leuchte hat leisten können. Ich habe sie noch ein wenig lieber gewonnen, die Schreibtischlampe des Vaters, dank der Lektüre über das Leben einer aussergewöhnlichen Frau und einem Buch, das Designgeschichte kongenial mit Familiengeschichte kombiniert.

Rosmarie Baltensweiler. Design leben
Edition Hochparterre, 2023
268 Seiten

Ausstellung zum Buch
SA 16. September bis SO 1. Oktober
En Bas, Luzern

Franziska Nyffenegger ist Kulturwissenschaftlerin und unterrichtet im Departement Design der Zürcher Hochschule der Künste.


 

041 – Das Kulturmagazin
September 09/2023

Text: Franziska Nyffenegger

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