Im Labyrinth der Erinnerung

Viscosistadt, Emmenbrücke, 26.04.2019: In der Viscosistadt öffnet der «Gedächtnispalast» seine Pforten. Ein Monsterprojekt auf fünf Stockwerken, mit Theater, Kunstinstallationen und Ausstellungen. Der Clou: Die einzelnen Szenenmuss man sich selbst wie ein Puzzle zusammensetzen.

 

Fotos: Beat Allgaier

Fährt man mit dem Lift in den vierten Stock der alten Spinnerei in der Viscosistadt, weiss man noch überhaupt nicht, was einen in den nächsten Stunden erwartet. Waghalsig klingt die Beschreibung des angekündigten Theaterprojektes. Fünf Jahre Entstehungsgeschichte, ein Budget von 1,2 Millionen Franken, 100 Mitwirkende, davon 9 Berufs- und 35 Laiendarsteller*innen, über 5000 Quadratmeter Fläche werden bespielt. «Gedächtnispalast» ist ein Ungetüm von einem Theater.

Die Idee: Ein Gedächtnispalast (eine Mnemotechnik, bei der Erinnerungen und Informationen mental in Räumen und an Gegenständen festgemacht werden), in dem man sich frei bewegen und Erinnerungsfetzen, Räume, und Szenen betrachten kann. Annette Windlin inszeniert über fünf Stockwerke die Geschichte von Marga und Hannes. Ihr Leben, ihre Liebe, und auch deren Schattenseiten und noch viel mehr. Doch mehr sollte an dieser Stelle nicht verraten werden. Was auf diesen fünf Stockwerken geschieht, muss selber erlebt werden.

Gedächtnispalast

Nachdem man ins Innere des Aufführungsraums geführt wurde, ist man sich selbst überlassen. Und im ersten Augenblick völlig überwältigt. Unzählige kleinere und grössere Szenen finden in regelmässigen Abständen überall im Gebäude statt. Das Schauspielensemble wuselt von einem Ort zum nächsten, trifft sich für eine kurze Szene und geht auseinander, um sich irgendwo anders vielleicht wieder zu treffen. Geschrieben wurde das Stück von Martina Clavadetscher. Das muss ein enormer Aufwand gewesen sein, dass alle Elemente ineinanderpassen, gleichzeitig aber auch für sich allein stehen können.

Nur schon logistisch gesehen ist der «Gedächtnispalast» eine Meisterleistung. Neben der starken Leistung des Ensembles, finden sich Video- und Audioinstallationen, Flyer, Bücher, Bilder, Postkarten. Alles Teil des grossen Ganzen. Es ist Theater, aber auch viel mehr als das. Es ist Kunstausstellung, Museum, Rundgang.

Gedächtnispalast

Als Publikum, oder besser Gast in diesem Gedächtnispalast, wird man ständig gefordert. Konstant muss man Entscheidungen treffen. Bleibt man an diesem Ort? Geht man zum nächsten? Folgt man einer Figur? Oder dem eigenen Instinkt? Die von Ruth Mächler ausgestatteten Bühnenbilder beeindrucken mit Liebe zum Detail. Jede Ecke hat irgendetwas, das sich anzuschauen lohnt. Alles kann einen Hinweis geben oder einen weiteren Bezug zu einer nächsten Szene schaffen.

Stück für Stück setzt man für sich selbst die Geschichte zusammen, wie ein Puzzle, wobei es unmöglich ist, jemals das ganze Bild zu sehen. Immer wieder wird man überrascht, wenn eine Szene plötzlich einen ganz anderen Aspekt des Palastes beleuchtet. Oder man spürt, dass einem an einer anderen Stelle nur die Umrisse eines Erzählungsstranges bekannt sind, aber noch einiges fehlt. So sind auch die Gespräche nach dem Besuch faszinierend, wenn man merkt, dass einem ein ganzer Abschnitt der Geschichte fehlt, oder man etwas gesehen hat, was eine andere Person wiederum verpasst hat.

Kaum hat man den Palast verlassen, überlegt man sich, wie man das Theater auch anders hätte erleben können. Am Liebsten würde man direkt wieder zurück, um noch einmal in die Erinnerungen einzutauchen.

Gedächtnispalast
FR 26. April – SA 29. Juni, Einlass jeweils ab 19:00 Uhr
Viscosistadt, Emmenbrücke

Genauere Daten unter: https://gedaechtnispalast.ch/infos/daten-vorverkauf/

Inszenierung: Annette Windlin
Text: Martina Clavadetscher
Bühnenbild, Kostüme, Maske: Ruth Mächler

Die Rezension gefällt? Hier gibt's alle Texte von Nikola Gvozdic!