Im kollektiven Taumel

Das diesjährige B-Sides-Musikprogramm bietet für Musiknerds und Konzert-Nomaden wenig Neues. Aber immer noch genug, um das Musikherz in Wallung zu bringen. So verwandelten fünf Däninnen die Hauptbühne in ein kollektives Anarcho-Tollhaus. Und dann spielte noch eine Band, die Metal macht. Für Leute, die keinen Metal mögen. 

(Fotos: Silvio Zeder)

Für eine erste Charmeoffensive ist das Luzerner Trio Hermann besorgt. Ihr süffiger Mundart-Pop lädt ein zum Mitwippen, lässt aber nicht vergessen, dass hier ganz klar Stahlberger und seine Band als Inspiration Pate stehen. Auf einen Schlagzeuger verzichtet die Gruppe und zählt stattdessen auf die Rhythm Ace FR-1, eine Drum Machine japanischer Bauart aus den 60er-Jahren. Die Retro-Beats, gepaart mit unaufgeregtem Gitarrenspiel und dezenten Synthie-Klängen, klingen dann bisweilen wie Jeans for Jesus für Mittdreissiger: Weniger cool, dafür reifer. Und einmal mehr stellt sich die Frage: Wieso gibt es immer noch so wenig Bands, die Mundart singen?

Während die schrulligen Alltagsbeobachtungen von Hermann noch durch den Kopf flirren, beginnt auf der Zeltbühne das grosse Wehklagen der Neuenburger Sängerin und Gitarristin Emilie Zoé. Sie ist ein Wolf im Schafspelz. Von ihren unschuldigen Rehaugen darf man sich nicht täuschen lassen. Ihr Vokabular dreht sich um Schmerz, Wut und Angst. Analog dazu malträtiert sie sägend, bohrend und fräsend ihre Gitarre – und kehrt ihr Inneres nach Aussen. Begleitet wird sie von einem Schlagzeuger, der in sein Instrument drischt, als wolle er dem Hörer Zoés Selbstkastei auch mit aller Vehemenz in die Magengrube schlagen. Es creept und angered, manchmal zu viel, aber das sie es ernst meint, steht ausser Frage.

Hat Emilie Zoé in ihren Songs gehobelt und geschliffen, sind bei Dear Reader die meisten Kanten und Ecken schon abgeschliffen. Das Folk-Pop-Quartett aus Berlin trägt farbige Stoffbänder um den Hals. Das sieht von weitem aus wie Lametta. Und ihr flauschiger Folk-Pop hat auch die Halbwertszeit von Lametta. Sieht schön aus, klingt schön. Aber kurz danach landet es im Güsel, im Niemandsland des Gedächtnisses. Die Songs sind trotzdem facettenreich, handwerklich superb vorgetragen und wenn sie mehrstimmig singen, dringen bisweilen epische Pop-Momente herein. Eine Flucht nach egal-wohin. Wenigstens für eine Stunde.

Foto: Silvio Zeder

Auf dem Papier ist Rocky Wood wohl die unbekannteste Band an diesem Abend. Ein Geheimtipp, der nach dem Konzert keiner mehr sein sollte. Das Quartett aus Lugano kommt aus dem Umfeld von Camper Records, einem Tessiner Label, das die geballte Indie-Schaffenskraft des Kantons vereint. Sie bleibt den Deutschschweizern ennet dem Gotthard leider nicht selten verborgen. Rocky Wood spielen reifen Folk-Rock, den sie mit psychedelischen Post-Rock-Einflüssen verzieren und der sich nicht selten zu liebevollem Pop erbaut. Und erst der Gesang: Die Schweizerisch-amerikanische Sängerin Romina Kalsi besitzt ein vollmundiges, warmes Timbre, das an Lhasa de Sela erinnert.

Hier sollte man auch noch kurz das diesjährige Programm kritisieren, das nur wenige Überraschungen wie Rocky Wood bereithält. Vieles im Programm spielte vor geraumer Zeit schon in Luzern (a=f/m, Selvhenter) oder an anderen Festivals in der Deutschweiz (Wand, King Ayisoba). Für den ungeübten Festival-Besucher gibt es derwohl vieles zu entdecken, für einen Konzert-Nomaden fühlt sich das Programm hingegen wie eine Checklist mit schon zu vielen Häkchen an.

So haben auch East Sister kürzlich im Neubad gespielt und dabei ihre famose Debut-EP «Colour Blind» getauft. Aber es steht ausser Frage, dass es dieses Trio verdient, vor einem grösseren Publikum zu spielen. Lorraine Dinkel und Laura Schenk besitzen Stimmen, die sich kongenial ergänzen, während der akademisch geschulte Schlagzeuger Amadeus Fries mit seinem Spiel – einer präzisen Mischung aus prägnanter Fahrigkeit und subtiler Zurücknahme – dem schwelgerischen Dream-Pop Dynamik verleiht. Während dem Konzert war das Bohemians-Welcome-Zelt leider wieder mit zu viel redseligem Stehgemüse gefüllt. Ich wünschte mir in Gedanken eine Death-Metal-Band herbei, die Hühnern den Kopf abbeisst und mit 120 Dezibel im Zelt den Hopfen vom Malz zu trennt.

Zwei Schlagzeuge, die wie eine losgelassene Mustang-Herde schwadronieren, eine Posaune, die wie ein pumpender Bass klingt, ein Saxofon, das durch den Verzerrer gejagt wird, und eine Geige, die wie eine flirrende Sirene klingt. So und nicht weniger verwegen trotzen die fünf Däninnen von Selvhenter ihren Instrumenten Klänge ab. Eine Art Jazz-not-Jazz. Jazz im Sinne von zügellosem Wagemut, sich in Improvisierte Teile zu stürzen, aber letztendlich doch wie eine Noise-Rock Band zu klingen. Soviel Experiment konnte man auf der grossen Bühne seit dem Bestehen des B-Sides noch nie bestaunen. Es war ein Husarenstück, das eigentlich so nicht geplant war.

Eigentlich sollte Wand auf der grossen Bühne spielen, doch die haben ihren Flug verpasst. So spielten sie eine Stunde später auf der Zeltbühne. Dass sie angepisst waren, konnte man den Gesichtern während dem Soundcheck ablesen. Doch ab dem ersten Ton lieferte das Quintett aus Los Angeles grundsolide amerikanische Wertarbeit und eine grosse, stilistische Bandbreite aus Punkrock, 90er-Jahre Rockallerlei und Ausflüge ins Psychedelische. Top.

Spätestens wenn das Feuilleton über eine heimische Band schreibt, deren Fundament auf Metal fusst, muss der kritische Beobachter des zeigenössischen Musikschaffens hellhörig werden. Die Rede ist von Zeal & Ardor und deren Kopf Manuel Gagneux aus Basel. Aus dem Nichts veröffentlichte er das Mini-Album «Devil Is Fine», auf dem er dreist Gospel und Blues mit Metal kombiniert. Vielen einheimischen Musikjournalisten (hier ausnahmsweise die männliche Form nicht aus Bequemlichkeit gewählt) ging ab dieser Kombination einer ab. Nun mal Tacheles: Mit Metal hat das insoweit zu tun, dass Metal-Stile zitiert werden und die Codes des Genres bedient werden. So tragen alle die dem Genre geschulte, schwarze Berufskleidung und der Gitarrist headbangt brav zu seinen Riffs. Aber musikalisch ist es ein Sammelsurium aus Metal-Versatzstücken und ein Verwerten von Stilen, die eigentlich schon lange auf der Müllhalde der Musikgeschichte dahinsiechen wie Screamo oder Nu-Metal. Das klingt dann zusammengefasst in etwa so: Gagneux singt etwas von «Oh Lord, Oh Lord», es folgen Blastbeats und Power-Chords, im nächsten Song heisst es dann «Devil, Devil» und es folgt irgend ein anderes Versatzstück aus der Crossover-Zitatenhölle. Man lerne: Viele Zitate geben noch keine Handschrift. Als musikalisches Experiment ist das durchaus spannend, aber spätestens, wenn man als Headliner auf einer Hauptbühne steht, zählt nur noch das Resultat. Oder bin ich zu streng? Nein. Nach dem Konzert fragte ich Daniel Fontana, den Programmator der Bad Bonn Kilbi und ausgewiesener Kenner von Rock-Kapriolen der härteren Gangart, ob Zeal & Ardor an der Kilbi spielen werden. Seine Antwort: «Nein».