Ihr Verbrechen war es, ihr Haar im Wind tanzen zu lassen

Die gewaltvollen Proteste im Iran halten an. Ein Gespräch mit der Journalistin Solmaz Khorsand über feministischen Widerstand und staatliche Gewalt.

Solmaz Khorsand ist Journalistin, Kolumnistin und Autorin («Pathos», Kremayr & Scheriau, 2021). Sie schreibt u.a. für das Magazin Republik. Ihre Arbeiten reichen von Essays zur österreichischen Innenpolitik über Reportagen aus Weissrussland bis hin zur Wahlberichterstattung aus dem Iran.

Fangen wir mit dem Kopftuch an. Im Iran ist der Hidschab keine private, sondern eine öffentliche Angelegenheit.

Die Hidschabpflicht gehört zu den wichtigsten Säulen der Islamischen Republik. Die Vorstellung, dass mit der Kontrolle über den Körper der Frau die ganze Gesellschaft kontrolliert werden könne, ist in der DNA des Regimes verankert.

In Ihrem preisgekrönten Artikel «Die iranische Verwandlung», der 2016 im österreichischen Magazin Datum erschienen ist, beschreiben Sie, wie sich die Kontrolle der Sittenpolizei auf das Leben von Frauen auswirkt. Ein Beispiel dafür ist der Fall der 22-jährigen Mahsa Jina Amini, die am 13. September festgenommen wurde, weil sie ihre Haare nicht korrekt bedeckt habe. Drei Tage später war sie tot. Was ist passiert?

Augenzeug:innen zufolge wurde sie in einem Polizeifahrzeug geschlagen. Ähnliche Berichte gibt es auch von der Polizeiwache. Ausserdem gibt es CT-Aufnahmen, die eine Gehirnblutung zeigen, und Ärzt:innen sagen aus, dass sie hirntot ins Krankenhaus eingeliefert worden sei. Laut Aminis Familie war sie kerngesund. Die Regierung behauptet aber, dass sie einen Herzinfarkt erlitten habe.

Das ist eine Lüge.

Im Iran scheinen extrem viele an «Herzinfarkten» oder «Schlaganfällen» zu sterben. Das ist eine beliebte Lüge, wenn das Regime jemanden umbringt. Eine weitere heisst «Selbstmord», wie bei Nika Schakarami, die im September bei einem Protest in Teheran starb. Das Regime behauptet, sie sei von einem Gebäude gestürzt. Die Familie durfte ihre Leiche aber nicht untersuchen lassen.

Amini wurde auf die Polizeiwache gebracht, um ein «Erziehungs-Briefing» zu erhalten. Wie muss man sich das vorstellen?

Das ist ein zynischer Euphemismus. Die Sittenpolizei ist nicht da, um dich über Kleidungsvorschriften zu belehren. Stattdessen wirst du eingeschüchtert, man nimmt deine Daten auf, es kann zu sexualisierter Gewalt kommen. Solange du dich nicht wehrst und dich stattdessen schweigend beschimpfen lässt, besteht die Chance, dass alles gut geht. Die Einheiten der Sittenpolizei sind für ihre Aggressivität bekannt. Wenn sie sich provoziert fühlen, gehen sie auf dich los.

Inwiefern spielt es eine Rolle, dass Amini Kurdin war?

Amini stammte aus Saqqez, einer kurdischen Stadt im Westen Irans. Dass ihre Herkunft dazu beitrug, dass die Sittenpolizei brutaler gegen sie vorging, ist möglich. Nach ihrem Tod spielte diese eine grosse Rolle, weil man in Kurdistan den Mut zum Widerstand hat. Aminis Bestattung führte zu Demonstrationen, welche die ganze Bewegung entfachten.

Die Regierung sprach von «kurdischen Separatisten».

Das Regime ging gegen die Demonstrierenden mit extremer Härte vor, in Sanandadsch, der Hauptstadt Kurdistans, gab es kriegsähnliche Zustände. Dass die Regierung von Separatist:innen sprach, ist typisch. Jedes Mal, wenn die Bevölkerung sich auflehnt, behauptet das Regime, die Proteste seien vom Ausland gesteuert.

Etwa zwei Drittel der Bevölkerung des Irans sind Perser:innen. Sonst sind Kurd:innen, Belutsch:innen, Turkmen:innen und viele andere dort zu Hause. Ist es neu, dass an der Protestbewegung so viele verschiedene Bevölkerungsgruppen beteiligt sind?

Die Proteste ziehen sich heute quer durch alle Bevölkerungsgruppen und Religionen. Sowohl junge als auch ältere Menschen sind dabei. Neu ist ausserdem, dass die Proteste nicht nur in urbanen Zentren, sondern auch in der Provinz stattfinden. Das konnte man in Belutschistan gut beobachten. Auch dort schlug das Regime äusserst brutal zu. In Zahedan wurden an einem Tag über neunzig Personen getötet.

 

«Amini stammte aus Saqqez, einer kurdischen Stadt im Westen Irans. Dass ihre Herkunft dazu beitrug, dass die Sittenpolizei brutaler gegen sie vorging, ist möglich. Nach ihrem Tod spielte diese eine grosse Rolle, weil man in Kurdistan den Mut zum Widerstand hat.»

 

Wie erklären Sie sich diese Brutalität?

Das ist das klassische Verhalten eines autoritären Regimes. Wobei das Regime im Moment sehr nervös reagiert. Wenn sie weiter töten, hören die Proteste nicht auf. Der Iran hat einen sehr ausgeprägten Todeskult, bei dem man am dritten, siebten und vierzigsten Tag nach dem Tod um die verstorbene Person trauert. Jede Trauerfeier kann zu einer politischen Demonstration werden. Auch wenn sich die Proteste legen sollten, lässt sich dieser Funke schnell wieder entzünden.

Welche Rolle spielen Kulturschaffende bei den Protesten?

Iranische Kulturschaffende verurteilten den Mord an Mahsa Jina Amini und unterstützten die Proteste. Ausserdem erscheinen viele neue Lieder. «Baraye» von Shervin Hajipour ist zu einer inoffiziellen Hymne geworden. Sie wurde von Kurdistan bis Belutschistan gesungen.

Unter den Verhafteten gibt es auch viele Fussballspieler. Ali Karimi, ein ehemaliger Bundesliga-Profi, twitterte im September: «Hab keine Angst vor starken Frauen. Vielleicht kommt der Tag, an dem sie deine einzige Armee sind.»

Nach dem letzten Spiel sagte Siavash Yazdani, ein iranischer Fussballer des FC Esteghlal, er widme den Sieg den iranischen Frauen. Das Fernsehen musste die Live-Übertragung abbrechen. Die iranische Kletterin Elnaz Rekabi nahm während der Meisterschaft in Seoul das Kopftuch als politische Geste ab. Kulturschaffende und Sportler:innen repräsentieren die Gesellschaft, nicht das Regime. Ich finde es falsch, Kultur und Sport zu sanktionieren.

 

«Alle Demonstrierenden haben dasselbe Ziel: das Regime zu stürzen. Ich empfinde dies als sehr feministisch, da alle begriffen haben: Solange Frauen oder queere Menschen unterdrückt werden, ist die ganze Gesellschaft nicht frei.»

 

Der Sänger von «Baraye» wurde verhaftet, ebenso wie der Rapper Tumaj Salehi, der über Ungerechtigkeit und die Korruption der Behörden rappte. Er singt: «Jemandes Verbrechen war es, ihr Haar im Wind tanzen zu lassen.» Was ist mit den beiden Sängern passiert?

Hajipour wurde auf Kaution freigelassen. Auf Instagram war danach ein seltsames Video von ihm zu sehen, auf dem er sich von der Situation distanziert. Von Tumaj gibt es auch ein Video, wo er sich mit zugebundenen Augen entschuldigt. Man merkte, dass dieses Geständnis durch Folter erreicht wurde.

Es ist kein Zufall, dass wir über Männer sprechen. Dürfen Frauen im Iran singen?

Nur privat. Deswegen hat das Singen in der Öffentlichkeit so eine grosse politische Kraft. Um Karriere zu machen, sind viele Frauen ins Ausland geflohen. Die berühmteste ist Googoosh, die Madonna des Irans. Bis jetzt äusserte sie sich selten, und jetzt hat sie einen Protestsong herausgegeben. Viele Künstler:innen, die politisch eher zurückhaltend waren, beziehen jetzt Position.

Frauen sind die treibende Kraft dieser Bewegung und wurden von Männern unterstützt.

«Unterstützt» ist ein irreführendes Wort. Alle Demonstrierenden haben dasselbe Ziel: das Regime zu stürzen. Ich empfinde dies als sehr feministisch, da alle begriffen haben: Solange Frauen oder queere Menschen unterdrückt werden, ist die ganze Gesellschaft nicht frei.

Diese Solidarität scheint extrem gross zu sein.

Ich habe im Iran feministischere Männer als in Europa getroffen. Sie wissen, was die Unterdrückung der Frauen bedeutet. In Europa setzt man gerne die kolonialistische Brille auf und zeigt eine gewisse Arroganz gegenüber allem, das nicht im «Westen» verortet wird. Iran ist keine rückständige Gesellschaft. Bei den Demonstrierenden handelt es sich nicht um unterwürfige Muslim:innen, die sich «aufgeregt» haben. Die europäische Verhüllungsdebatte darf nicht auf den Iran projiziert werden. Dass die Iranerinnen ihre Kopftücher verbrennen, bedeutet nicht, dass sie gegen den Islam oder Frömmigkeit auftreten. Dies ist eine politische Geste.

Wurde das hierzulande begriffen?

Ich wünschte mir, dass dies besonders von feministischen Kreisen besser verstanden würde. Wir beschäftigen uns gerne mit unseren Vulvas als Gipsabdrücken, mit Menstruationsblut und tragen «The Future is Female»-T-Shirts. Was aber im Iran passiert, ist weltgeschichtlich wichtig. Wenn dort eine Revolution gelingt, wird das für uns alle etwas bedeuten.

 

«Ich habe im Iran feministischere Männer als in Europa getroffen. Sie wissen, was die Unterdrückung der Frauen bedeutet.»

 

Die Ereignisse im Iran erinnern uns daran, dass es bei Kultur nicht nur um Unterhaltung geht, und dass Kulturschaffende eine führende soziale und politische Rolle spielen können. Ist das im Iran selbstverständlich?

Im Iran hat man schon immer politisiert. Man lernte, zwischen den Grenzen zu manövrieren, die das Regime ganz willkürlich zieht, und die eigene Kritik klug und subtil zu verpacken. Für Kulturschaffende im Iran ist die eigene Existenz ein Kampf und sie sind sich der politischen Rolle der Kultur bewusst.

Merken Sie etwas Ähnliches in Europa?

In Westeuropa, wo alles so frei ist, so wohlstandsverwahrlost, fehlt mir dieses Bewusstsein, zumindest in einem solchen Ausmass.

Vielleicht spürt man diese Dringlichkeit nicht.

Ich fände es pervers zu sagen, dass man Todesangst braucht, um gute Kunst zu machen. Kunst muss auch nicht immer politisch sein. Etwas mehr politisches Bewusstsein würde ich mir allerdings wünschen. Die Situation ist für Frauen weltweit alles andere als problemfrei.

Wie empfinden Sie die Reaktion der Kulturwelt ausserhalb des Irans?

Solidaritätsgesten sind wichtig. Dass sich Charlotte Gainsbourg und andere Schauspieler:innen aus Solidarität mit den Protesten die Haare schneiden, wird im Iran wahrgenommen. Wenn Kim Kardashian sagt: «I stand with you, women in Iran», hat das Wirkung und kommt sogar bei jenen Menschen an, die sonst nicht sehr politisch sind. Man könnte aber viel mehr tun.

Welche Schritte würden Sie sich wünschen?

Sanktionen könnten verhängt, den Regimeangehörigen Einreiseverbote erteilt und deren Vermögen eingefroren werden. Gleichzeitig sollte man für Studierende und Kulturschaffende die Türen offenhalten. Universitäten könnten Stipendien und Kulturinstitutionen Residenzen für Iraner:innen einrichten. Dafür kann sich auch die Zentralschweiz einsetzen.

Shirin Neshat, die Regisseurin von «Land of Dreams», sagte, dass sich die Proteste nicht wie ein vorübergehender Aufstand anfühlen, sondern wie eine Revolution. Ist das auch für Sie so?

Ich spreche lieber von einem revolutionären Prozess, ein Begriff, der vom Politikwissenschaftler Ali Fathollah-Nejad stammt. Revolution impliziert für mich, dass der Prozess schon abgeschlossen und gelungen ist. Ich wünsche mir diesen Erfolg genau wie die Demonstrierenden im Iran, die den Umsturz des Regimes wollen. Aber ja, in den Köpfen der Menschen hat sich die Revolution schon vollzogen.

 


041 – Das Kulturmagazin
Dezember 12/2022

Text: Emilia Sulek
Bild: Hannah Heibl

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