Ich seh's nicht

14.11.2020, B74 – Raum für Kunst, Luzern: Christian Frehners Papierschnitte entfalten wenig Wirkung beim Kritiker – doch ein zufälliges Detail bringt ihn auf eine überraschende Spur, durch die er dem Werk einen Sinn abgewinnen kann. Dabei geht es um nichts Geringeres, als um die Existenz der Realität.

Es ist schon dunkel, als ich im B74 ankomme. Es ist wieder diese Zeit des Jahres. Ich bin überrascht, einen gedeckten Apérotisch vorzufinden. Vereinsamt, die Gäste sind bereits drinnen. Noch einmal tief durchatmen, Maske auf und rein.

Kunst findet nicht statt

Im Gang ist es trotz weniger Leute unangenehm eng, also husche ich schnell in die Ausstellungshalle. Darin fallen gleich die grossen Papierbögen mit akkurat ausgeschnittenen Löchern auf. Christian Frehners Werke der titelgebenden Reihe «emptied» (2019/20) erinnern ein wenig an orangene Absperrzäune – bloss in Weiss.

Die Papierschnitte baumeln lose über ein Rohr, falten sich liegend auf dem Boden oder lehnen sich faul an eine Wand. Von diesen heben sich Farbdrucke im Mittelformat ab: durchlöcherte Landschaften, die noch am ehesten wie Bilder an den Wänden befestigt worden sind. Sie gehören zur neusten Werkreihe «lost» (2020).

Christian Frehner: emptied
«lost 16°42’N / 93°1’E», Papierschnitt, 77cm x 60cm (2020)

So auch die kleineren Formate im Raum nebenan, welche ebenfalls vintage-farbene, jedoch feiner durchlöcherte Landschaften zeigen. Wie Waschlappen oder Küchentücher hängen sie auf einer Reihe an der Wand, so dass die Motive nur sehr schwer zu erkennen sind. Diese Inszenierung durch die Löcher lässt zweidimensionale Gebilde zu dreidimensionalen werden. Ein Effekt, der durch eine traditionelle Bildaufhängung abgeschwächt würde.

Doch trotz aller Durchsichtigkeit: Ich seh’s nicht. Ich finde den Zugang nicht, die Werke wirken unmotiviert und lösen nichts in mir aus. Was bleibt, ist deren formale Betrachtung hinsichtlich Material und Technik.

«lost I», Papierschnitt, 140cm x 105cm (2020)
«lost I», Papierschnitt, 140cm x 105cm (2020)

Ich möchte sie aber verstehen. Wenn mich ein Werk nicht anspricht und stumm bleibt, hilft mir manchmal ein anderer, ein indirekter Weg: Die Vermittlung durch das Vorwissen, den Diskurs oder die Kunstgeschichte und -theorie. Dazu gibt es auch den Saaltext, den Katalog oder das Gespräch mit dem Künstler. Doch auch Letzteres hilft oft nur bedingt ­– bringt gelegentlich aber zumindest Überraschendes zu Tage.

Löcher in der Realität

So fragt eine Besucherin den Künstler: «Wie hast du diese Löcher gemacht?» «Ich weiss nicht mehr, wie das heisst, aber mit einer Art Zirkel zum Schneiden», war die Antwort. «Eine Schülerin», so der nebenberufliche Lehrer für Gestaltung weiter, «brachte mal einen solchen in den Unterricht. Und während alle mühsam mit dem Japanmesser Kreise ausschnitten, ging es ihr damit ganz einfach.» «Das muss ein Schneidezirkel oder ein Kreisschneider gewesen sein», ergänzt ihn ein anderer Besucher.

«Angefangen hat es mit Kriegsbildern.» – Christian Frehner

Ich geselle mich zu dieser Gruppe hinzu und frage nach der Idee hinter den Löchern. «Als ich 2008 in Paris war», erzählt der Luzerner, «interessierte ich mich nicht für die Aussenwelt, sondern für die Bilder, welche die Medien lieferten. Diese vergrösserte ich und zeichnete sie mit Bleistift ab. Da diese Bilder Pixel enthielten, zeichnete ich Pixel. Ich fokussierte mich auf das Thema der Auflösung und kam so auf die Idee, das Ganze umzukehren. Also anstatt die Pixel zu zeichnen, liess ich sie leer. So kam es zu den Löchern». Später fügt er an: «Angefangen hat es mit Kriegsbildern.»

Ich blättere durch den Katalog seiner vergangenen Werke und lese von seiner Reihe «War Cuts» (ab 2013). Ein Titel, der an Gerhard Richters Künstlerbuch «War Cut» (2004) angelehnt sei. Ein Cut-up, also eine Montage von Detailaufnahmen eines seiner Bilder mit Texten aus der «FAZ» vom 20. und 21. März 2003, dem Anfang des Dritten Golfkrieges.

Eine unvorhergesehene Spur, die mir einen neuen Zugang, eine neue Perspektive, eine neue Sichtweise zu Frehners Kunst eröffnet. So veröffentlichte der französische Philosoph Jean Baudrillard zum Zweiten Golfkrieg ein Buch mit dem Titel «La Guerre du Golfe n'a pas eu lieu» (1991). Darin leugnet er nicht die Realität der Zerstörung, der Opfer und der Toten vor Ort, sondern weist darauf hin, dass «der Westen» mit seiner absoluten Übermacht einen «chirurgischen» (Nicht-)Krieg führten. Die westlichen Zuschauer*innen bekamen dazu «klinisch saubere» Fernsehbilder zu sehen, die mehr wie Computersimulationen wirkten.

«emptied I», Papierschnitt, 150cm x 400cm (2020)
«emptied I», Papierschnitt, 150cm x 400cm (2020)

Bilder simulieren heute eine «Hyperrealität», in der Bild und Wirklichkeit, Fake und Fakt zunehmend ununterscheidbar werden. Referenzlose leere Bilder, die auf keine Realität mehr verweisen, wodurch selbst Aufklärung und Ideologiekritik sinnlos werden. Bilder, die der Realität vorausgehen, so dass wir sagen: «Das ist wie im Film.» Wie etwa bei 9/11. Oder sie unauflösbar aufeinander verweisen wie beim Reality-TV oder bei Social Media – exemplarisch zu beobachten beim Phänomen Donald Trump.

Die Kunst bleibt davon nicht unbeschadet, sei sie doch vollständig in Kommerz aufgegangen: «Was wir heute Kunst nennen, scheint von einer unheilbaren Leere zu zeugen», schreibt Baudrillard. Die Realität werde in der Kunst weder negiert noch überschritten zu etwas Neuem und Anderem, sondern sie verdopple bloss die Banalität des Alltags im real-existierenden Kapitalismus.

«Bei den farbigen Bildern war ich freier, da ich mich nicht an den Pixeln orientierte.» – Christian Frehner

Was einst Kunst war, habe sich in einer «allgemeinen Ästhetisierung des Alltagslebens» aufgelöst, sodass Kunst nun überall sei, am wenigsten aber im Kunstsystem selbst, wo es nur noch um Differenz-, Distinktions- und Marktwerte geht. War früher also alles besser?

Wüsten des Realen

Ob die weissen Formate mit den grossen Löchern auch auf Bilder beruhen, frage ich. «Ja, auf nah herangezoomten Bildern, die entsprechend grosse Pixel aufweisen, sodass das Abgebildete unerkennbar wird», so Frehner. «Aber bei den farbigen Werken offenbar nicht», hake ich nach. «Dort war ich freier, da ich mich nicht an den Pixeln orientierte.»

Die Vorlagen entstammen Büchern, die er in Brockenhäusern fand. Sie zeigen Landschaften, in denen früher indigene Völker gelebt haben sollen. «Schon als Kind habe ich solche Bücher gelesen und diese Bilder geliebt.» Der nostalgische Vintage-Look der abgebildeten «Wildnis» und die Abwesenheit von Menschen im «Naturzustand» verweisen auf ein imaginäres «verlorenes Paradies», das etwa durch unseren Blick, die Wissenschaft oder die Technik unwiederbringlich durchlöchert und zerstört worden ist. Was bleibt?

«Auflösung – dafür interessiere ich mich», wiederholt Christian Frehner. Doch Auflösung von was? Der Bilder, des Natürlichen oder des Realen? Die Banalität der Löcher ermöglicht durch ihre Leere die Sicht auf dasjenige hinter dem Bild. Aber ist es die Wirklichkeit?

Christian Frehner – emptied
SA 14. November bis SA 5. Dezember
B74 – Raum für Kunst, Luzern