Hören, sehen, sich bewegen

Luzerner Theater, Box, 10.3.2017: In der Box wird als Uraufführung «Tauben fliegen auf» nach dem gleichnamigen Roman von Melinda Nadj Abonji gegeben. Regisseurin Sylvia Sobottka inszeniert als eine Art Essenz des Romans ein visuell-szenisches, vielstimmiges Hörspiel.

Wie heisst es so schön im Volksmund: Zwei sind ein Trend. Dann handelt es sich um einen. Das Theater St. Gallen bringt in der Lokremise «Fräulein Stark» als Hör-Drama nach der Novelle von Thomas Hürlimann auf die Bühne. Im Zürcher Theater Neumarkt wird «Der Fall Meursault», eine Entgegnung auf Camus’ «Der Fremde» von Kamel Daoud, gegeben. Luzern ist der Dritte im Bunde: «nach dem gleichnamigen Roman von Melinda Nadj Abonji», angekündigt als «szenisches Hörspiel», eine Gattungsnovität. Das heisst, dass der bestehende Prosatext nicht etwa als dramatische Dialogfassung umgesetzt wird. Sondern: Die originalen Textpassagen des Romans werden belassen, wie sie geschrieben stehen. Die Luzerner Fassung hat sich lediglich die Freiheit genommen, (natürlich) zu kürzen und mitunter im Buch auseinanderliegende Passagen zusammenzuziehen. Da wird auch, nur sinnvoll, das Roman-Personal reduziert. Ausgewählt wurden, in Absprache mit Melinda Nadj Abonji, «Passagen, die die existenziellen Erfahrungen von Familie, Politik, Emanzipation und Heimat widerspiegeln» (Regisseurin Sylvia Sobottka im Programmflyer zu «Tauben fliegen auf»).

Der Roman erzählt aus der Ich-Perspektive von Ildi(kó), ein Alter Ego der 1968 geborenen Autorin, eine Familiengeschichte: Herkunft als Angehörige der ungarischen Minderheit in der Region Vojvodina im Norden Serbiens, Migration der Eltern in die Schweiz (Zürich), Balkan-Krieg (und was er mit den Menschen macht), Ankommen in der Schweiz, Arbeit, Liebe, Identität, Emanzipation. Für «Tauben fliegen auf» erhielt Melinda Nadj Abonji 2010 sowohl den Deutschen wie den Schweizer Buchpreis.

tauben_2Wie zeigt sich das nun in der Inszenierung? Kommt man draus ohne Kenntnis des Romans? (Gewissen Publikumsreaktionen – Lacher – zufolge scheinen viele in der Box den Roman nicht gelesen zu haben.) Ein paar Mal macht die Inszenierung auf «crowd participation», wie man im Rock’n’Roll sagen würde. Publikumsanimation. Gut, Mitmachtheater ist es zum Glück nicht. Da gibt es Stühlewechseln, kurzes angetöntes Mittanzen und Häppchen-Verköstigung. Der tiefere Sinn dieses Tuns erschliesst sich nicht allen, man fragt gegebenenfalls nach der Plausibilität des Ganzen. Aber es bringt etwas Bewegung ins Geschehen. Gemeint ist, dass man dabei ist, mittendrin, Teil der Familie Koscis. Statisch bleibt es auch ohne Publikumsaktivitäten nicht.

Das Ensemble sitzt und steht und geht mitten in den Publikumsreihen. Man befindet sich auf individueller Bestuhlung, kein Sitzplatz gleicht dem andern: Polsterstühle, Holzsessel, Camping-Klappstühle, rundum, in der Mitte ausgesparter Platz, freie Gänge dazwischen. Das Schaufenster Richtung Reuss bleibt offen, der Blick geht auf die Lichter draussen, auch die Laterne leuchtet. Am Ende wird es blenden, von Scheinwerfern, der Innenraum wird für ein schönes Schlussbild nach aussen erweitert. Der Box-Boden ist von einem grünlichen Teppich bedeckt. Das Ensemble ist in Schwarz-Weiss gekleidet, die Hauptfigur Ildi in hellblauer Bluse. Die Kostüme assoziieren das Motiv des einen Hauptschauplatzes, der Cafeteria Mondial. Die Familie hat in einer Zürcher Goldküsten-Gemeinde ein Restaurant übernommen, die Eltern, Ildi und ihre jüngere Schwester Nomi, alle arbeiten mit. Wenn das Licht ins rote Grelle wechselt und ein Punksong ertönt, befinden wir uns mit den beiden Schwestern in Zürich in der damals besetzten, heute längst geschleiften Wohlgroth-Fabrik (die Älteren erinnern sich: gleich bei den Hauptbahnhof-Gleisen, jahrelang prangte dort an der Fassade als typografische Parodie ein riesengrosses «ZUREICH»).

tauben_3Mit Ausnahme der als solcher identifizierbaren Ich-Erzählerin Ildi ist die Figurenzuordnung nicht fix. Man changiert, im Berichten, in direkter wie indirekter Rede. Zur Familie Koscis kommen Cousin Bela und Ildis unglückliche frühe Liebe Dalibor. Das Episodenhafte der Romanstruktur und die Musikalität der geschriebenen Sprache rettet die Inszenierung in diese Bühnenfassung. Wobei sich die Vielstimmigkeit als anspruchsvoll erweist (Fragen wie «Wer ist wer?», «Wer sagt was?»). Immer wieder gelingen Szenen von seltener Eindringlichkeit.

Diese Familiengeschichte ist auch eine politische Geschichte. Was auf dem Balkan geschah und geschieht, wie man emigrierte, die Eltern sich in der Schweiz anpassen, Fleiss beweisen, wie man die Grossmutter (Mamika) daheim in Serbien besuchen geht, an einer Hochzeit teilnimmt, 50. Geburtstag der Mutter, was an Familiengeheimnissen an den Tag kommt. Von der Erzählgegenwart kann in Erinnerungen und Erfahrenem zurückgeblendet werden, als vergegenwärtigte Geschichte.

tauben_4Wie im Roman kommt zweimal der Satz der Mutter zur Sprache, den die Tochter nicht versteht: «Wir haben hier kein menschliches Schicksal, das müssen wir uns erst noch erarbeiten.» Schliesslich: Der Satz «Das Wesentliche bleibt unübersetzbar» wird ans Fenster gesprayt, bis die Inszenierung im schönen Regieeinfalls mit dem blendenden Scheinwerferlicht mündet. Ildi geht, zieht aus, sie hat gute Gründe dafür.

Glücklich, wer den Roman vor dem Theaterbesuch schon gelesen hat. Glücklich, wer die Romanlektüre noch vor sich hat.

Tauben fliegen auf
Uraufführung nach dem gleichnamigen Roman von Melinda Nadj Abonji
Textfassung: Sylvia Sobottka, Hannes Oppermann
Inszenierung: Sylvia Sobottka

Mit Sofia Elena Borsani, Michèle Breu,  Adrian Furrer, Wiebke Kayser, Mirza Šakić

Bühne und Kostüme: Manuel Gerst
Musik: Mark Schröppel

Luzerner Theater, Box
Aufführungen bis 16.4.

Begleitveranstaltung: «Luzerner Salon» zu «Tauben fliegen auf»
Sa, 25.3., 16.00, Box

© Fotos: Ingo Höhn/Luzerner Theater