Geschichtlichkeit im Banne des Wahns

Luzerner Theater, 28.3.2014; Johanna von Orléans dient Sabine Auf der Heyde in «Johanna!» als Folie, um auf der Bühne des Luzerner Theaters ein gewagtes Stück über Geschichtlichkeit zu inszenieren. Indes fehlt dem Abend ein Spiritus Rector in dramaturgischen Belangen. Das gefährdet die durchdachten Fragen, die die Inszenierung an die Figur Jean d’Arcs heranträgt.

(Bilder: PD/Toni Suter)

Bereits zu Beginn macht Auf der Heyde klar, wie frei sie gedenkt, mit der legendenumrankten Frau umzugehen: Das Gemälde Rubens, das Johanna auf den Knien und betend darstellt, wird als durchschimmerndes und bühneneinnehmendes Abbild aus Stoff dem Zuschauer verzerrt vor die Nase gesetzt. Die perfekte Projektionsfläche! Das Bild hält sich nur kurz und wird bereits in den ersten Minuten demontiert; dem Publikum wird der Blick auf eine Hörsaalbestuhlung freigegeben. Was darauf folgt, ist eine Collage mit Zitaten von Felicitas Hoppe, Friedrich Schiller, Edward Snowden, aber auch Anders Behring Breivik. Der gestrige Abend ist im Kontext mit Auf der Heydes Inszenierung in der vergangenen Spielzeit zu sehen: «Maria Stuart» war ein durchschlagender Erfolg bei Publikum und Kritik und kann damit eine Erklärung hergeben, dass sie im aktuellen Stück vom Theater an der Reuss eine Carte Blanche erhalten hat. Man vertraut der Frau und traut ihr Grosses zu – zu Recht. Mit sicherem Gespür für Aktualitäten klopft Auf der Heyde die zahlreichen Versionen von Johannas Lebensgeschichten und deren Rezeptionen ab. In einer schier endlosen und repetitiven Verhörsituation, die den live spielenden Musiker Jacob Suske kurzum als Verhörrichter agieren lässt, werden die Kategorien, die Johannas «Untaten» fassen sollen, ad absurdum geführt. Dies mutet dem Zuschauer einiges zu, ist mutig inszeniert und veranlasst den einen oder anderen erbosten Premierengast, den Saal frühzeitig zu verlassen. Luzern ist nicht Berlin. Nachdem «Johanna» erst einmal freigelegt ist und die Narrationen von Kirche und Staat als Machtmittel entlarvt sind, wird das Innerschweizer Publikum auf Trab gehalten: Ist Anders Behring Breivik, Terrorist aus Norwegen, ein Freiheitskämpfer? Ist der moralische Anspruch bei Johanna nach gleichem Muster gestrickt wie bei Snowden? Was trennt Überzeugung von Wahn? Johanna wird in Luzern auch als Werkzeug, das je nach Windrichtung von machthungrigen Männern nach ihren Zwecken eingesetzt wird, gezeigt. Dessen ungeachtet will Auf der Heyde Johanna von Orléans nicht als Opfer verstanden wissen; sie besetzt Johanna mit fünf stark aufspielenden Aktricen, wobei die jüngste von ihnen erst zehn Jahre alt ist. Dass den Schauspielerinnen Peinlichkeiten wie eine unmotivierte Interaktion mit dem Publikum  und Ausführungen zu religionspsychologischen Allgemeinplätzen zugemutet wird, liegt an der fehlenden dramaturgischen Stringenz, die vor lauter Bäumen streckenweise den Wald aus den Augen verliert. Obwohl die Bühne (Ann Heine) eine klare Rollenteilung zwischen Lehrenden und Lernenden impliziert, hätte das Publikum entgegen seiner zugedachten Rolle etwas mehr Führung verdient.

«Johanna!»; Sabine Auf der Heyde (Inszenierung), Ann Heine (Bühne); Barbara Aigner (Kostüme); Jacob Suske (Musik)