Geniekult und Antisemitismus

Richard Wagner komponierte in Luzern nicht nur einige seiner Werke und diente dem späteren Lucerne Festival als geistiger Gründungspatron. Hier verfasste und verbreitete er auch seine antisemitischen Schriften. Mit der bevorstehenden Neueröffnung des Richard Wagner Museums stellt sich die Frage: Wie könnte eine angemessene Gedenkpraxis aussehen?

Eigentlich seien es «ganz nette Leute», die in Richard Wagners «Ring des Nibelungen» auftreten, urteilt Loriot in seinem «Kleinen Opernführer» augenzwinkernd. Nur werde ihnen «eine gemeinsame Leidenschaft zum Verhängnis: Sie wollen mehr besitzen, als sie sich leisten können, mehr Macht, als ihnen zusteht. In blindem lieblosem Gewinnstreben vernichten sie sich selbst und ihre Welt.» Aufstiegseuphorie, Selbstermächtigung und -zerstörung: In aller Kürze kommen hier die Radikalität und die Widersprüche der wagner’schen Welt zum Ausdruck. «Zum Glück gibt es dergleichen nur auf der Opernbühne», zieht der Humorist sein Fazit und verweist ironisch auf die Kontroversen um eines der wichtigsten Werke der deutschen Musikgeschichte. Ironisch muss das für alle sein, die in der Schule nicht durchgepennt haben und es darum besser wissen: Was die Bühne serviert, ist nicht davon zu trennen, was in der Gesellschaft brodelt; bei Wagner besonders polarisierend. Wie nur wenige navigierte er durch die auseinanderdriftenden Klassen des 19. Jahrhunderts: Er begeisterte und empörte das konservative als auch das revolutionäre Bürgertum, pflegte finanziell lukrative Beziehungen in den höchsten Adel und inszenierte sich als Kulturproduzent des «einfachen Volkes».

Eine folgenschwere Broschüre

Einfach ist es um Richard Wagner bis heute nicht geworden; besonders nicht, seit sein Antisemitismus zunehmend aufgearbeitet und wahrgenommen wird. Luzern, wo Wagner zwischen 1866 und 1872 lebte, spielte bezüglich der sprachlichen Aushärtung und der medialen Distribution seines Antisemitismus eine zentrale Rolle: Hier rüstete Wagner einen seiner zuvor anonym erschienenen Texte zu einer Broschüre auf und verbreitete diese unter seinem eigenen, mittlerweile wirkungsmächtigen Namen. «Das Judenthum in der Musik», so der Titel der Broschüre, fand folgenschweren Anklang. Sie trug europaweit wesentlich dazu bei, christlichen Antijudaismus in bürgerlichen Antisemitismus umzuschreiben: Die Diskriminierung von Menschen jüdischen Glaubens wurde nicht mehr religiös, sondern rassisch begründet; Wagner schloss Judenhass an aufgeklärte, liberale Werte an.

Das zeigt sich prototypisch, insofern er der jungen, deutschen Identität das «jüdische Wesen» als Gegenteil einschrieb. «Der Jude» diente fortan als Projektionsfläche aller deutsch-bürgerlichen Ohnmachts- und Entfremdungserfahrungen. Und wo Wagner noch andere Ursachen der Entfremdung witterte – beispielsweise kapitalistische Ausbeutung –, führte er diese kurzerhand auf «die Juden» zurück. Ohnmacht und Entfremdung konnten so nicht mehr emanzipatorisch überwunden werden. Einzig das gewaltsame Entfernen des «Fremden» vermochte ihm zufolge eine wie auch immer geartete deutsche «Grösse» wiederherzustellen. Diese extreme bürgerlich-liberale Überzeugung Wagners und seiner engsten Kreise darf weder als Verirrung abgetan noch durch historische Umstände verharmlost werden. Wagner radikalisierte den Konsens der Zeit aus identitäts- und profitversprechendem Kalkül; ein Zynismus, der ihn mit heutigen rechtspopulistischen bis protofaschistischen Bewegungen verbindet.

 

Luzern spielte bezüglich der sprachlichen Aushärtung und der medialen Distribution seines Antisemitismus eine zentrale Rolle.

 

Bevor wir aber über Antisemitismus und Faschismus selbstgerecht urteilen, sollten wir uns davor hüten, deren bürgerlich-liberalen Impuls zu übersehen. Nicht nur verhinderte Kunstmaler mit kurzem Schnauz sprangen darauf an. Einzelne faschistische Teile – sogenannte Proto- oder Partialfaschismen – sind massentauglich, weil sie der Mitte der Gesellschaft entspringen. Das beweisen heutige demokratische Gesellschaften zuhauf: Deutschland, Italien, die Vereinigten Staaten oder Brasilien, um nur einige zu erwähnen, und ja, auch die Schweiz. Es sind vor allem die bürgerlich-liberalen Klassen, die Parteien wählen, zu deren sozialem Programm die Einteilung der Gesellschaft in einzelne Gruppen aufgrund identitätsstiftender Merkmale – Herkunft, Geschlecht, sexuelle Orientierung und so weiter – sowie die Abgrenzung gegen das jeweils eingeschriebene Fremdbild gehören. Daraus geht jene Gewalt hervor, welche «die Anderen» ausschliesst, ausbeutet oder schlimmstenfalls ausmerzt. Und darum ist es so gefährlich, Wagner und sein Werk von jeglicher Verantwortung für die Manifestierungen einer protofaschistischen oder ausgewachsen faschistischen Ideologie reinzuwaschen: Seine Radikalität schloss ideologische Lücken vom gemässigten Bürgertum über die extreme Rechte bis hin zur liberalen Linken und stärkte die bis heute währende Salonfähigkeit von Faschismen aller Art.

Trennung von Person und Werk

Inwiefern oder ob sich Richard Wagners antisemitische Denke in seinem Werk niederschlug, gilt noch heute als umstritten. Diese Haltung fusst allerdings auf einer mythenerhaltenden Rhetorik, die das «Genie» nicht mit dem Braunen beschmutzen will, das es aussondert. Wenn es eine Schwierigkeit gibt, besteht sie darin, dass Wagner seinen Antisemitismus nicht gänzlich offen, sondern vermischt mit anderen Narrativen auf die Bühne treten liess. Daher die Ambivalenz selbst bei Figuren wie dem raffgierigen Alberich oder dem intriganten Hagen im «Ring des Nibelungen». Wagner war bewusst, was er spielen liess. Schon früh verglich er die genannten Figuren mit «Würmern»; ein Vergleich, den er beispielsweise in einem Brief an Ludwig II., den jungen König von Bayern und zugleich Lieblings-Groupie von Wagner, vornimmt: «Ein sterbender Leib wird sofort von den Würmern gefunden, die ihn vollends zersetzen und sich assimiliren. Nichts anderes bedeutet im heutigen europäischen Culturleben das Aufkommen der Juden.»

Trotz allem steht die musikalisch herausragende Stellung Wagners ausser Frage. Auch hier um Radikalität nicht verlegen, komponierte er der Klassik derart überwältigend die Moderne um die Ohren, dass dem Publikum kaum Zeit blieb, zwischen völligem Unverständnis und völliger Hingabe zu entscheiden. Wagner schrieb harmonische Regeln mit wegweisender Komplexität um und arbeitete gleichzeitig mit Techniken der Suggestion: So überbrückte er die ansonsten klare Tren-nung zwischen Hoch- und Populärkultur; eine Eigenheit, die später dem Pop vorbehalten sein wird. Und noch heute hinterlässt der Tristan-Akkord rauchende Köpfe in der Musikwissenschaft, während Fans des grossen Hollywood-Kinos indirekt Wagner bestaunen: Ohne seine Leitmotiv-Technik wären solch ikonische Soundtracks wie der «Imperial March» – das Leitmotiv von Darth Vader in «Star Wars» – undenkbar.

 

Die oft bemühte Trennung von Person und Werk bei Wagner ist nachvollziehbar, zu entschuldigen ist sie aber nicht. Wer dies tut, positioniert ein Kulturerzeugnis ausserhalb seines gesellschaftlichen und historischen Kontexts als unschuldiges Genussobjekt.

 

Die oft bemühte Trennung von Person und Werk bei Wagner ist nachvollziehbar, zu entschuldigen ist sie aber nicht. Wer dies tut, positioniert ein Kulturerzeugnis ausserhalb seines gesellschaftlichen und historischen Kontexts als unschuldiges Genussobjekt, frei von Machtverhältnissen. Es ist gerade dieser Mythos der «grossen» Kunst, der sie für den Adel und die Bourgeoisie so attraktiv macht. Er heiligt den menschlichen – oder eigentlich männlichen – Genius, indem er dessen raffiniertestes Tätigungsfeld überspielt; und das war und ist immer noch die Herrschaft.

Mit Wagner zur Musikstadt von Weltrang

So weit sei das Phänomen Wagner angerissen, mit dem sich die Stadt Luzern konfrontiert sah und sieht. Seit dem Kauf 1932 verwaltet sie das Richard Wagner Museum und den öffentlichen Freizeit- und Badepark auf Tribschen. Ein Grund für den Kauf war nicht zuletzt, das grüne Ufer der Spekulation und Überbauung zu entziehen, was die Stadt bis heute erfolgreich durchgesetzt hat. Ein solch verdienstvolles Vorhaben fällt aber dort besonders leicht, wo sich andere Interessen unterbringen lassen. So ist es kein Zufall, dass der Stadt genau auf das 50. Todesjahr Wagners hin die Zeit reif schien, Tribschen als idyllischen Ort der Hochkultur zu konservieren. Wagner leistete dieser romantischen Verquickung von Natur und männlichem Genie schon reichlich Vorschub. Die Stadt konnte mühelos daran anknüpfen. Gleichzeitig arbeitete das lokale Bürgertum eifrig daran, Wagner nationalistisch zu vereinnahmen; es sei schliesslich spezifisch die Schweizer Landschaft, die ihm auf Tribschen so manchen Ton in die Partitur gezwitschert habe.

logischen Abgrenzung zu Nazi-Deutschland, das Wagner für sein mythisches Germanentum heroisierte. Vor allem rechnete die Stadt mit einem profitablen touristischen Aufschwung. Schon Anfang der 1930er-Jahre mit dem Beginn der geistigen Landesverteidigung stiegen die Besuchszahlen von Museen und damit etwa die Belegung von Hotelbetten derart an, dass nicht nur die Leuchtenstadt begann, sich für «ihre» Kultur ins Zeug zu legen. Allerdings reichte dem Luzerner Stadtrat, allen voran dem Liberalen Jakob Zimmerli, das Richard Wagner Museum allein nicht aus, um einen der ersten echten Stars des europäischen Musikdramas zu würdigen. Entsprechend trieb er seine Vision voran, der Zentralschweizer Provinz musikalische Geltung von Weltrang zu verschaffen. Und tatsächlich: Von der Präsenz des «Meisters» geheiligt, spielte in Luzern bald musikalische Weltspitze. Die Internationalen Musikfestwochen, heute bekannt als Lucerne Festival, wurden 1938 unter anderem mit Wagners «Siegfried-Idyll» eröffnet. Seitdem wurde Wagner fast jedes Jahr gespielt; historisch problematisiert oder auch nur kontextualisiert allerdings kaum. Und wenn, dann vornehmlich, um eine Veranstaltung mit einem Skandälchen zu bewerben. Etwa so wie die Eröffnung des Lucerne Festivals im Frühjahr 2022 mit Wagner und dem jüdischen Komponisten Felix Mendelssohn. Wagner denunzierte Mendelssohn unter anderem in der zuvor genannten Broschüre, bewunderte aber dessen Musik. Auf dem Blog des Festivals wurde die Veranstaltung als «heisses Eisen» und «explosive Kombination» zur publikumswirksamen Anekdote verharmlost.

 

Man muss vermuten, dass der «Mythos Wagner» im Museum erhalten bleibt. Noch kaum ein Bemühen um authentische Darstellung der Vergangenheit zielte auf deren kritische Aufarbeitung.

 

Exemplarisch manifestieren sich die beiden strategischen Pfeiler, auf denen die Gedenkpraxis um Wagner seit jeher aufbaut: mythenbildender Geniekult und wirtschaftliche Verwertung. Wagners politische Radikalität wird zu massentauglicher Harmlosigkeit gezähmt, seine Musik zum unschuldigen Genussobjekt geformt. Die anekdotische Gedenkpraxis wird uns auch im Museum vor Augen geführt: Einzelne Ereignisse oder Gegenstände werden beschrieben und biografisch eingebettet; historische Zusammenhänge werden aber kaum aufgearbeitet. Problematisches wird zwar nicht gänzlich verschwiegen, aber wo es zur Sprache kommt, ist es eher ein zufälliges, unerwünschtes Nebenprodukt. Ein bisschen wie bei einem Kasperlitheater, in dem es rassistisch und sexistisch zu und her geht, über das wir aber, besänftigt von heimeliger Stimmung, letztlich eher schmunzeln als die Stirn runzeln. So ist auch das Museum eher nostalgisch als fanatisch. Der Geniekult ist aber unübersehbar: Besucher:innen können sich an Wagner-Büsten oder an einer Nachbildung seiner rechten Hand ergötzen und in einer Vitrine mit Wachssiegel, Siegelring, seidenem Hausschuh und ornamentaler Klavierlampe den adligen Lebensstil des ehemaligen Sozialrevolutionärs bestaunen.

Wie weiter mit Wagner?

Die Broschüre «Das Judenthum in der Musik» hat es mittlerweile in eine Vitrine geschafft. Unauffällig in einer Ecke erhält sie aber weniger Aufmerksamkeit als alltägliche Belanglosigkeiten wie beispielsweise die Peitsche für Russo, Richard Wagners Lieblingshund, die opulent inszeniert und gut sichtbar aufgehängt ist. Stadt und Museum lassen verlauten, kritischen Inhalten mehr Raum geben zu wollen. So könnte es Audioguides, Vorträge oder Führungen geben, die unter anderem über Wagners Antisemitismus informieren. Wie genau dies umgesetzt wird, zeigt sich, wenn das Museum im April mit einer Neugestaltung der Dauerausstellung wiedereröffnet; der ersten seit 40 Jahren.

Allerdings soll der Schwerpunkt der Neugestaltung darauf liegen, den zentralen Ausstellungsraum wie zu Lebzeiten Wagners einzurichten. Dies lässt vermuten, dass der «Mythos Wagner» im Museum erhalten bleibt. Noch kaum ein Bemühen um authentische Darstellung der Vergangenheit zielte auf deren kritische Aufarbeitung.

Möglich und nötig wäre bei Wagner sehr viel mehr. Er bietet sich hervorragend dafür an, historische Zusammenhänge aufzuarbeiten. Allerdings bedürfte es dazu einer Gedenkpraxis, die den «Mythos Wagner» so weit fallen lässt, bis sie die Person Wagner in ihrer radikalen Bürgerlichkeit auffängt. Und einer Gedenkpraxis, die unbequeme Fragen mit Aktualitätsbezug stellt. Beispielsweise, wieso die extreme Rechte mit ihrer heuchlerischen Elitenkritik, ihrem Patriotismus und ihrem Rassismus ein derart fulminantes Comeback feiert. Bei Wagner zeigt sich beispielhaft, wie Faschismus und Antisemitismus der Mitte der bürgerlichen Gesellschaft entspringen. Und aus diesem Grund würde ihm auch sein Platz mitten in Luzern weiterhin gebühren.


 

041 – Das Kulturmagazin
März 03/2023

Text: Jan Miotti
Bild: Alexandra Baumgartner

ABOOOOOO JA...

Wir brauchen dich. Wir brauchen dich, weil Journalismus kostet. Und weil wir weiterhin ausgewählte Beiträge auf null41.ch für alle kostenlos zugänglich machen wollen. Deshalb sind wir auf deine Unterstützung als Abonnent:in angewiesen. Jedes einzelne Abo ist wertvoll und macht unser Schaffen überhaupt erst möglich. Wir freuen uns auf dich und deine Bestellung über unseren Online Shop. Herzlichen Dank.