Ganz schön vermessen

Musikstreaming hat unsere Hörgewohnheiten innert eines Jahrzehnts gewaltig verändert. Es ist schrecklich bequem, sich vom Spotify-Algorithmus leiten zu lassen – dabei drohen wir aber viel mehr zu verpassen, als wir entdecken.

Es war magisch, da waren wir uns einig. Im Jahr 2015 lancierte Spotify, der Musikstreamingdienst aus Schweden, eine neue personalisierte Playlist: «Discover Weekly», dreissig Songs lang, jeden Montagmorgen frisch auf jede:n Einzelnutzer:in zugeschnitten. Verblüffend genau traf der Algorithmus den jeweiligen Geschmack, so befanden wir; manche Künstler:innen kannten wir bereits, aber hatten sie irgendwann wieder vergessen, anderes war uns noch völlig unbekannt. Noch in den hintersten verwinkelten Ecken seiner rasant wachsenden Bibliothek fand Spotify, was wir gerne hören wollten. Der Algorithmus verstand uns besser, als es der Typ im Plattenladen oder die geschmackssichere Kollegin mit dem riesigen iTunes-Archiv je taten. Und es war verdammt bequem. Mit seinen massgeschneiderten Vorschlägen schenkte Spotify uns etliche Stunden zurück, die wir ansonsten in Zeitschriften oder Musikblogs stöbernd zugebracht hätten.

Irgendwann schlich sich eine andere Art Verblüffung ein. Kann es tatsächlich sein, dass da auf der Wohnzimmerparty bei Freunden von Freundinnen dieser eine Song aus der Bluetooth-Box scheppert, den Spotify letzte Woche so treffsicher für mich ausgegraben hat? Und Moment, der nächste kommt mir ebenso bekannt vor, eine obskure Perle aus den Neunzigern, die mir «Discover Weekly» auch schon vorgeschlagen hat, mehrmals sogar. Kann es sein, dass ich gerade unverhofft neben der einen Person auf der Welt sitze, die den exakt gleichen Musikgeschmack hat wie ich? Oder, was natürlich schlimm wäre: Habe ich musikalische Allerweltsvorlieben, die alle hier im Raum teilen?

Mit roten Zahlen aus der Talsohle
Vielleicht hat Spotify uns ganz einfach faul gemacht. Vielleicht nutzen wir viel zu oft bloss noch die Playlists, die teils von Menschenhand, teils algorithmisch erstellt werden, und wenn wir die Alben mancher Künstler:innen auch gezielt auswählen und durchhören, lassen wir anschliessend doch wieder das Spotify-Radio entscheiden, was weiterläuft. Oft gefällts ja ganz gut. Kann es sein, dass wir unseren Entdecker:innengeist gegen ein Streaming-Abo eingetauscht haben?

Im Lauf des letzten Jahrzehnts ist ein dutzende Milliarden schwerer Streaming-Markt entstanden, der die Musikindustrie mittlerweile aus dem Tal der eingebrochenen Tonträger-Umsätze herausgeführt hat. Natürlich mischen darin unter anderem auch Google, Apple und Amazon mit, die Vormachtstellung aber hat sich Spotify – Hauptsitz in Stockholm, Prestigebüros in Manhattan, Steuerdomizil in Luxemburg – längst gesichert und bislang standhaft verteidigt. Bald sind es 400 Millionen Menschen, die über einen Account verfügen. Etwa 9 Milliarden US-Dollar an Umsatz dürfte die Firma in diesem Jahr einfahren, aus den roten Zahlen kommt sie dennoch nicht heraus: Der Konkurrenzkampf um den Rang als Branchenprimus ist hart, ständig muss in neue Länder expandiert werden. Und was die IT-Infrastruktur an Entwicklungs- und Stromkosten mit sich bringt, will man sich gar nicht vorstellen. Auch in diesem Jahr wird das Defizit Hunderte Millionen betragen.

Immerhin, über 5 Milliarden US-Dollar hat Spotify allein im letzten Jahr an Lizenzgebühren ausgeschüttet, die Künstler:innen und Musiklabels gemäss länderspezifischen Verträgen zustehen. Es ist hinlänglich bekannt, dass nur ein winziger Teil der Musiker:innen mit Spotify ernsthaft Geld verdient; in der Schweiz gibt es weniger als einen halben Rappen pro abgespielten Song, damit kommen die allerwenigsten auf einen grünen Zweig. Weltweit fliessen 90 Prozent des Geldes an weniger als
1 Prozent der Künstler:innen. Unsere Beträge, die wir Spotify monatlich überweisen, gehen schliesslich nicht etwa an jene Acts, die wir selber hören, sondern anteilsmässig an jene, die auf dem ganzen Planeten gestreamt werden. Also allergrösstenteils an wenige Hundert Superstars, für deren Musik wir meist nie im Leben einen Franken ausgeben würden. Nicht zuletzt mit unserem Geld reproduziert der Streaming-Markt deshalb jene Ungleichheiten, die es im Musikgeschäft immer schon gab, und er verschärft sie sogar.

Irgendwann schlich sich eine andere Art Verblüffung ein. Kann es tatsächlich sein, dass da auf der Wohnzimmerparty bei Freunden von Freundinnen dieser eine Song aus der Bluetooth-Box scheppert, den Spotify letzte Woche so treffsicher für mich ausgegraben hat?

Es menschelt weiter
Die Kritik an Spotify ist vor allem dort laut, wo einst mit dem Verkauf von Tonträgern beträchtlich Geld verdient wurde, auch im musikalischen Mittelstand. Hierzulande, wo abseits weichgespülter Radio-Ödnis und Volkstümelei ohnehin nur selten an ein Auskommen zu denken war, werden hingegen vor allem die Vorteile von Spotify hervorgehoben: Das Modell ermöglicht es schliesslich, Menschen rund um den Erdball zu erreichen, die eines Tages Konzerte besuchen und Platten oder Merchandise kaufen könnten. Wenn schon nicht als Einkommensquelle, so dient Spotify immerhin als Promo-Werkzeug. Der mühselige Weg über Radiointerviews und teure Inserateschaltungen bleibt erspart. Bloss: Wer seine Musik dort verfügbar macht, stellt sie Seite an Seite mit über 70 Millionen Musikstücken – und es werden laufend unvorstellbar viele mehr, derzeit sollen es 60 000 pro Tag sein. Im endlosen Strom des Streamings kämpfen 8 Millionen Acts um die Aufmerksamkeit der Hörer:innen.

Selbst wenn du die beste Musik der Welt machst, wird sie kaum jemand wahrnehmen, solange du nicht bei den richtigen Multiplikator:innen ankommst. Im Spotify-Universum bedeutet dies: Du musst auf den richtigen Playlists landen, also bestenfalls auf jenen, die von einem globalen Millionenpublikum abonniert sind. Logisch, dass eine kleine Wissenschaft um die Frage herum entstanden ist, wie man sich in diesem steifen Wettbewerb Vorteile verschaffen kann.

Zusammengestellt werden die Playlists mitunter von Menschen aus Fleisch und Blut: Sowohl von Spotify-Abonnent:innen, die ihre Listen mit der Welt teilen, als auch von firmeneigenen Kurator:innen. Letztere bespielen die Tausenden «Editorial Playlists», die teils spezifischen Musikstilen gewidmet sind, sehr oft aber auch nachgefragte Stimmungslagen bedienen. Wer «Chill Hits», «Beast Mode» oder «Van Life» einschaltet, zum Relaxen, Pumpen oder als Soundteppich in der Bar, interessiert sich in der Regel kaum dafür, was für eine Band gerade läuft. Wer jedoch auf solch beliebten Listen landet, schraubt seine Streamzahlen in neue Sphären. So funktioniert der einigermassen nachvollziehbare Teil des Spotify-Games: Künstler:innen und Labels können Lieder «pitchen», also manuell für diese oder jene Playlist vorschlagen. Es müssen abertausende Bewerbungen sein, die auf diesem Weg bei Spotify eingehen – da hilft es natürlich, die betreffenden Kurator:innen zu kennen. Netzwerken ist alles, und es ist harte Arbeit. Gerade in der Schweiz: Seit ein paar Jahren ist bei Spotify niemand mehr exklusiv für die hiesige Musiklandschaft zuständig. Längst dominieren zudem die Majorlabels von einst – zumindest jene, die den Niedergang des Tonträgermarkts überlebt haben – auch die Netzwerke des Streaming-Business.

Viel lieber führt er uns an zentral gelegene Allgemeinplätze, auf denen sich möglichst viele Hörer:innen tummeln. Sein Gravitationspunkt liegt im Feinschliff, er strebt nach dem Bekömmlichen.

Ein feingeschliffener Gravitationspunkt
Und dann gibt es eben noch den anderen Weg: Als Künstler:in kannst du versuchen, den Spotify-Algorithmus zu knacken. Also deine Präsenz auf der Plattform so zu perfektionieren, dass deine Lieder möglichst vielen User:innen automatisch vorgeschlagen werden. Wie der Algorithmus genau funktioniert, gibt das Unternehmen freilich nicht preis – er ist ein Kernstück seines Erfolgs und daher ein wohlgehütetes Geheimnis. Auffällig ausgefeilt wurde er insbesondere, seit Spotify 2014 eine kleine Firma namens The Echo Nest aufkaufte, die an Musikerkennungs- und Analysetools forschte. Magie steckt da aber keine drin, wie jeder Algorithmus besteht auch jener von Spotify aus einer Abfolge genau definierter Einzelschritte, an deren Ende feststeht, welche Lieder welchen Nutzer:innen nahegelegt werden. Tüftler:innen, Journalist:innen, Musiker:innen und Bandpromotor:innen auf der ganzen Welt investieren viel Energie, um der Mechanik auf die Spur zu kommen. Demnach basiert sie auf drei Säulen.

Zunächst geht es um die banale Logik, dass User:innen mutmasslich überschneidende Vorlieben haben: Wenn zwei dieselbe Band oft hören, scheint es sinnvoll, ihnen vorzuschlagen, was die jeweils andere Userin sonst noch so rauf- und runterspielt. Da geht es darum, ob gewisse Songs nebeneinander auf öffentlichen Playlists auftauchen, oder auch, wie oft Hörer:innen sie in ihrem Archiv vermerken oder auf eigenen Listen ablegen. Die zweite Säule kann man sich schon gezielter zunutze machen: Offenbar durchforstet Spotify das Internet, um auf Textbasis zu eruieren, mit welchen musikalischen Nischen oder mit welchen Acts eine Band in Verbindung zu bringen ist. Das heisst: Je öfter und je näher deine Musik an der Seite beliebter Künstler:innen oder Stilrichtungen genannt wird, desto höher stuft der Algorithmus deine Relevanz ein. Desto eher wird er dich folglich auch bestimmten User:innen vorschlagen. Und dann ist da noch die dritte Säule: Es wird davon ausgegangen, dass Spotify auf Basis der eingespeisten Audiofiles Klangprofile erstellt, die Musikstücke miteinander in Verbindung setzen lassen. Was vergleichbare Texturen wie deine Lieblingslieder aufweist, wird dir mit grösserer Wahrscheinlichkeit empfohlen.

Und so erklärt sich letztlich, warum wir auch im grössten Musikarchiv der Welt und trotz hyperpersonalisierten Empfehlungsmechanismen plötzlich doch alle an ähnlichen Punkten landen. Spotify stellt auf Basis einer riesigen Zahl von Einzeldaten Verstrebungen her zwischen den Hörgewohnheiten und Vorlieben all seiner Nutzer:innen. Und diese fangen mit der Zeit an, sich gegenseitig zu bestätigen und zu verstärken. So bringt uns der Algorithmus, der uns freundlich an der Hand nimmt und durch die schiere Masse an möglichen Hörentscheidungen geleitet, tendenziell nicht in die herausfordernden Ecken der Musikwelt: Viel lieber führt er uns an zentral gelegene Allgemeinplätze, auf denen sich möglichst viele Hörer:innen tummeln. Sein Gravitationspunkt liegt im Feinschliff, er strebt nach dem Bekömmlichen. Nichts spricht dagegen, sich weiterhin von Spotify auf Entdeckungsreise mitnehmen zu lassen – bloss sollten bequeme Leute wie ich wohl zwischendurch daran erinnert werden, dass der Algorithmus uns kaum an die Ränder des Musikuniversums bringt. Dabei ist es dort noch immer am spannendsten.


Text: Raphael Albisser

Dieser Beitrag erschien in 041 – Das Kulturmagazin im Dezember 12/2021.

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