Fremdenfreunde

Theater Stans, Samstag, 16.1.2016: Historisch und aktuell wie nie – Das Stück «Tschingge» blendet zurück ins Jahr 1970, in die Zeit der Abstimmung über die sogenannte «Überfremdungsinitiative» der Nationalen Aktion von James Schwarzenbach. Eine kleine Geschichtslektion in Theaterform, politisch und aber auch unterhaltsam.

(Bilder Emanuel Wallimann/Ben Hochreutener)

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Die Fremden kommen, zuhauf. Es sind italienische Gastarbeiter, ehrlicher aber «Fremdarbeiter» genannt. Das Schimpfwort für sie lautet «Tschingge». Menschen aus dem Süden, die ins Wohlstandsschweizerland migrieren, um selber aus materieller Not zu fliehen und in der Schweiz mit am Wohlstand zu arbeiten. «Wirtschaftsflüchtlinge», Migranten, von denen im Jahr 1970 bei Annahme der Initiative der rechten «Nationalen Aktion gegen Überfremdung von Volk und Heimat» 300 000 Menschen subito ausgeschafft würden (was damals noch nicht so heisst, aber «ausweisen» tönt auch nicht angenehmer). Es kommt, die Älteren unter uns erinnern sich, nicht soweit. 74,7 Prozent Stimmbeteiligung gibt’s am 7. Juni 1970 – die Initiative wird mit 46% Ja gegen 54% Nein abgelehnt. Interessantes Detail am Rande, so informiert das Stanser Programmheft: Im Kanton Nidwalden nahmen 10 von11 Gemeinden (alle ausser Stans) die Initiative an. (Der Luzerner TV-Journalist Beat Bieri hat 2014 für das Schweizer Farbfernsehen SRF einen sehenswerten DOK-Film realisiert: «Gegen das Fremde – Der lange Schatten des James Schwarzenbach». Kann man hier nachschauen.) Vor diesem helvetisch-historischen Hintergrund spielt das Stück des Aargauer Autors Adrian Meyer, in Stans von Dodó Deér (auch Bühnenbild) inszeniert. Die Jahreszahl-Projektion am Anfang: «1970». Linkerhand steht eine Art Kanzel-Bühne, Schauplatz für Auftritte der «Volkes Stimme», aber in der verschränkten Dramaturgie von Hiesig und Fremd immer wieder Ort für Italo-Schlager-Zwischenspiele. Zu hören sind etwa Minas «Tintarella di luna», der Heuler «Quando, quando, quando» sowie Canzoni wie «Come prima» und «Nel mio cuore ci sei solo tu». Das sind nicht nur schön vielstimmige Gesänge (musikalische Leitung: Christov Rolla), diese Vokal-Auftritte werden auch, in wechselnder Kostümierung, charmant-komisch inszeniert (Choreografie: Mariana Coviello). Von der Kanzel ertönen auch die Worte vom leibhaftig auftretenden Marc Virot (Urban Riechsteiner in Anzug und weissen Handschuhen), damals Vorsteher der kantonalen Fremdenpolizeichefs; es sind Auszüge aus seinem Leitfaden für Einbürgerungsbehörden mit dem Titel «Vom Anderssein zur Assimilation – Merkmale zur Beurteilung der Assimilationssreife der Ausländer in der Schweiz» (1968). Wenn es die Schrift nicht gegeben hätte, man würde, was da formuliert wird, glatt für einen traurigen Witz halten. Stammtischmässig die Äusserungen der «Volkes Stimme», die Originalen aus Leserbriefen, anonymen Schreiben und aus der Initiative-Werbung entsprechen. So war der (rechte) Geist anno 1970 gestrickt.

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«Ehri Sproch macht eifach meh Lärm aus üsi», heisst es bald einmal aus Einheimischenmund. Szenenwechsel zu Erfahrungsberichten aus der Einreise beim Schweizer Zoll. Cinzia Pozzi-Russo, Gaetano Pozzi-Russo, Salvatore Ferrara-Batelli und Rosanna Ferrara-Batelli werden auch von Bühnenmenschen mit echtem Migrationshintergrund gespielt: Olga Scodeller, Antonio Cerfeda, Salvatore Arnisi, Maria Contu. Dann Fussball: Die mit talentierten Italos («Ragazzi») aufwartende Mannschaft von Bauunternehmer Hutter (Josef Blättler) nimmt teil am Grümpelturnier, bei dem auch das Team von Sicherheitsfirmen-Chef Frick (Hans Peter Stutz) mittut. Diesen Rivalen gilt es sportlich zu bezwingen. Aber da passierts: Ober-Goalgetter Fortunato Pozzi (Giuliano Casini) wird verletzt und muss ins Spital. Schafft er es, bis zum Final wieder auf die Beine zu kommen? Fortunato kommt ausgerechnet ins Zimmer Nummer 12, wo eine illustre Runde in den Betten liegt: der eingebürgerte Thütsche Hemmerle (Arne Domroes), der sich schelmisch solidarisch mit dem jungen Secondo Fortunato zeigen wird; der höhere Beamte (und Hobby-Ornithologe) Albert Marti (Albert Müller); vor allem aber Oskar Scheidegger (Freddy Businger), Chef-Tschinggen-Hasser, der sich von einem Herzinfarkt erholt, unbedingt die Diskussionssendung auf Beromünster im Transistorradio hören möchte und natürlich unbedingt am Sonntag abstimmen gehen will. Zu dieser «politischen» Konstellation kommen allzumenschliche Komplikationen. Lernschwester Margot (Jessica Herber) würde eigentlich gerne mit Spitalarzt Dr. Geri Schmutz (Christian Odermatt) nach Italien in die Ferien fahren, was sie ihr zuhause offiziell nicht erlauben, sodass sie zu einem Trick greift. Derweil scheint sie von Neuankömmling Fortunato angetan, was wiederum die Eifersucht beim Herrn Doktor schürt, der sich ziemlich fies verhalten wird. Eine Katzenschänder-Geschichte kommt noch ins Spiel, ebenso die Sache mit dem vertauschten Abführmittel sowie dem dito Zwillingsbruder von Fortunato; und die Immigrierten geben ihr Blut (dem Roten Kreuz). Schliesslich geht es um die Wurst: Wird es Fortunato zum Finalspiel schaffen, und wie geht das Penaltyschiessen aus? Soviel sei verraten: Es gibt Gewinner und Verlierer, und alle singen und spielen sie am Schluss ein raffiniert arrangiertes Stück, das aus zwei verschiedenen Musiken besteht. Eine feurige italienische Tarantella geht dabei nahtlos über ins (Urner!) Lied «Zogen am Boge» von Albert Jütz. Diese Schlussszene nimmt ein früheres Motiv auf; da sangen sie noch gegeneinander. Ein Schweizer «Kuckuck»-Lied wurde mit «Al canto del cucù» gekontert (was mich an die berühmte Szene mit der «Marseillaise» versus «Die Wacht am Rhein» in «Rick’s Cafe» aus «Casablanca» erinnerte). Die Bühnenprojektion zeigt eine Zahl: «2016». «Tschingge» bietet Heiteres vor ernstem Hintergrund, vermittelt Helvetisch-Historisches, das ins Heute wirkt. Ein anregender Theaterabend, überaus unterhaltsam, einmal mehr.

Tschingge. Ein Stück Schweiz von Adrian Meyer Regie: Dodó Deér / Musikalische Leitung: Christov Rolla / Choreografie: Mariana Coviello / Kostüme: Irène Stöckli Theater Stans, Mürgstrasse 6, Stans; bis Samstag, 19.3.2016 www.theaterstans.ch Rahmenprogramm: I Pelati Delicati (die delikat Geschälten), «Finalmente Secondo – Endlich Zweiter!», Ein theatralisch-musikalischer Abend mit Andrea Bettini (Geschichten und Gesang), Basso Salerno (Akkordeon, Gitarre), Sonntag, 28.2.2016, 17 Uhr, Theater Stans

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