Flight-Mode off

Die Ausstellungs-Plattform Body Archive Project, die sowohl als digitales als auch physisches Zeigeinstrument fungiert, präsentiert unter dem Titel «Hard Body Soft Core» eine digitale Gruppenausstellung. Doch wie bewegt man sich im virtuellen (Kunst-)Raum? Ein Rundgang.

Bilder: Screenshots / zVg

Als erstes kommt einem der Ausstellungstitel entgegen: «Hard Body Soft Core», in fleischfarbenen Lettern auf grauem Grund. Die Buchstaben sind in Bewegung, fast so als würden sie atmen. Während ich mit dem Cursor über das Interface fahre, hinterlasse ich feine Spuren im Grau, löse ausufernde Wellenbewegungen aus, als berührte ich mit der Hand eine Wasseroberfläche. Ich klicke auf den Titel, ein Soundfragment ertönt. Am linken Bildrand erscheint der Ausstellungstext, schräg im Raum liegend.

Ich befinde mich im Body Archive Project, einem digitalen Kunstraum. Die virtuelle Gruppenausstellung wurde kuratiert von der gebürtigen Luzernerin Doris Dehan Son und dem gebürtigen Lausanner Simon W Marin. Sie haben Videos, Bilder, Sound- und Textarbeiten ausgewählt, die sich mit dem Körper jenseits seiner fleischlichen Realität auseinandersetzen, mit der Thematik des Berührens oder Berührtwerdens in einer Zeit, in der die Hand zur Metapher von Gefahr und Distanz geworden ist.

Hard body soft core

Sobald ich meinen Cursor über den Ausstellungstext bewege dreht sich das Textfeld zu mir hin. Die von der Künstlerin Esther Hunziker gestaltete digitale Ausstellungsszenografie scheint mit mir zu interagieren. Ich verschaffe mir einen kurzen Überblick über die einzelnen Arbeiten, die dort als interaktive Werkliste aufgeführt sind und klicke auf den ersten Beitrag: «Tanzende Bügeleisen (chicken real), 2016» des deutschen Künstler-Duos Paul Barsch und Tilman Hornig – der Titel fasst schon ziemlich alles zusammen: Die beiden absichtlich salopp animierten, zweckentfremdeten Alltagsgegenstände tanzen zu Country Music. Witziger Auftakt, mehr aber auch nicht.

Vom Körper losgelöst

Nach und nach streife ich eher zufällig als einer bestimmten Logik folgend über das Interface, suche nach Orientierung, zoome mich via Trackpad näher heran und wieder weiter weg von den «ausgestellten» Kunstwerken und erkunde die Beiträge der insgesamt 13 Kunstschaffenden oder Kollektive, unter denen sich auch der Turner-Preisträger Jeremy Deller befindet.

Viele der Arbeiten passen ausgezeichnet in die Gegenwart. So beschäftigt sich der in Berlin lebende Künstler Martin Kohout (*1984, Prag) in seinem Kurzfilm «Slides, 2017» mit dem Arbeitsmodell der Nachtschicht und seinen biologischen wie sozialen Auswirkungen. Der Film ist Teil eines grösseren multidisziplinären Projekts und bewegt sich ästhetisch irgendwo zwischen Sci-Fi und Dokumentarfilm. Die Kamera folgt den zwei Hauptcharakteren, die aufgrund gegensätzlicher Arbeitszeiten nie gleichzeitig wach sind und ihre Kommunikation über Sprachnachrichten aufrechterhalten. Zusammenleben ohne direkten Augenkontakt. Kommunikation, die losgelöst von der körperlichen Hülle in den unendlich wiederhol- und ständig abrufbaren Raum des Internets transferiert wird (wobei: Auch die Illusion der Allgegenwärtigkeit des Netzes lässt sich ein Stück weit ausschalten).

Als Weiterführung des 2008 vom Künstler gestarteten Projekts «Opening Hours», bei dem sich seine eigene Webseite jeweils über Nacht deaktiviert, wird die Domain der Ausstellung «Hard Body Soft Core» nun ebenfalls Nacht für Nacht in den Schlummermodus versetzt. Flight-mode on.

 

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

⠀⠀⠀⠀⠀⠀⠀⠀⠀⠀⠀ ???? ???? ???? ???? is closed today ?????? ?????? ??????? ?????, 2008–??????? ??????? ??????? ?????, ????? ?? ?????? ???? ??????, 2017 ???? ?? ?????, 22’30’’ ⠀⠀⠀⠀⠀⠀⠀ ⠀⠀⠀⠀⠀⠀⠀ ⠀⠀⠀ ⠀⠀⠀⠀⠀⠀ ⠀⠀⠀⠀⠀⠀⠀ ⠀ ⠀⠀⠀⠀⠀⠀ ⠀⠀⠀⠀⠀⠀⠀ ⠀ ⠀ ⠀Martin Kohout (*1984 in Prague) is an artist based in Berlin. Through his multimedia practice, he comments on the disorienting experience of navigating contemporary life, touching on notions such as counter-intuitive behaviors and the negation of biological reality. Since 2008, Opening Hours deactivates Martin Kohout’s website during the night to simulate the human need for a nightly recovery. The work has been adapted to this exhibition’s webpage. The short film Slides stems from a multidisciplinary project investigating the night-shift labor model, its biological, and social effects. The sci-fi-like fiction follows the estranged lives of two partners who work incompatible shifts and attempt to maintain a communication through voice messages.

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Sehnsucht und Sonnenaufgang

Flight-mode off. So beginnt die Videoarbeit «Poem No.2, 2020» der Zürcher Künstlerin STELLA. Vor einem wunderschön kitschig anmutenden Sonnenaufgang blickt eine Protagonistin, vielleicht die Künstlerin selbst, in die Ferne. Eine meditative Stimme reiht scheinbar assoziativ Worte aneinander, unterlegt von einem beruhigenden Soundtrack: «Coke. Zero. Light. Marlboro. Gold.» Es sind Metaphern des amerikanischen Traums, zwischen Sehnsucht und illusionistischer Konsum-Fassade.

Die Sehnsucht nach Freiheit – besser könnte man die aktuelle emotionale Verfassung der Gesellschaft wohl nicht beschreiben. Durch die gefilterte Wahrnehmung meines MacBooks blicke auch ich in die Ferne. Der Ausblick erscheint als Projektion unendlicher Möglichkeiten auf der Oberfläche meines begrenzten Screens.

Poem No.2 (2020)

Der Cursor als Prothese der Hand

Während Videos und Audioarbeiten den grössten Teil der sorgfältig ausgewählten Werke ausmachen, wird die Ausstellung ergänzt durch einen repetitiven, sich immer mehr verdichtenden Soundtrack des Künstlers und Produzenten Hajj mit dem poetischen Titel «My Love is Rotten To The Core» sowie durch ein verführerisches Digital Drawing des jungen argentinischen Künstlers El Pelele.

Im Vergleich zu vielen anderen, momentan wie Pilze aus dem digitalen Humus schiessenden Online-Ausstellungsformaten stösst «Hard Body Soft Core» eine innovative und inspirierende Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten der Kunsterfahrung im Internet an. Jenseits einer vermeintlichen Abgeschlossenheit des individuellen Körpers spielen die versammelten Arbeiten mit der Verschiebung von Emotion und Berührung in den digitalen Raum.

Und so wird beim Ausstellungsbesuch der Cursor zur Prothese meiner Hand, während das visuelle Erlebnis zuweilen unerwartete körperliche Reaktionen auszulösen vermag. Oder wie die Kurator*innen in ihrem Ausstellungstext schreiben: «When emotions become more tangible than touch.»

Hard Body Soft Core
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