«Feminismus ist Ehrensache»

Seit gut 35 Jahren bespielen Les Reines Prochaines die Musik- und Theaterbühnen der Schweiz und darüber hinaus. Sie besingen die Weiblichkeit, ohne diese zu verklären. Zum diesjährigen B-Sides Festival kommt die Band nun auf den Sonnenberg. Eine Hommage an die weiblichen Vorbilder der ersten Stunde.

Das erste Konzert von Les Reines Prochaines besuchte ich als Fünfjährige in einem Dreitausend-Seelen-Dorf im St. Galler Rheintal Anfang der 1990er-Jahre. Ich bekam die CD «Lob Ehre Ruhm Dank» (1993), die ich zu Hause tanzend auf und ab hörte. Die Songtexte, deren Bedeutungen mir erst später wirklich bewusst wurden, lernte ich auswendig und sang zum Amüsement der Erwachsenen lautstark mit:

Die Philosophie der Damen soll kurz, klar und elegant sein. Komm mit mir, komm mit mir, komm mit mir aufs Floss. Ich will dich, ich will dich, ich will dich bloss … Fall hinein, fall hinein, fall in meinen Schoss […] Ich mach’s dir, ich mach’s dir, ich mach’s dir bunt. Ich lecke dich, ich lecke dich, ich lecke dich wund. Ich mach’s dir, ich mach’s dir, ich mach’s dir bunt …

Was ich damals allerdings verstand, war: Es hatte etwas mit Sex und mit Frauen zu tun. Und diese fünf Frauen oben auf der Bühne waren lustig und mutig und das, was man damals noch «frech» nannte. Eine davon war die Videokünstlerin Pipilotti Rist, die im selben Dorf wie ich aufwuchs und mir zuallererst mit ausserordentlich tollen, bunten Kleidern auffiel. Ein paar Jahre später sah ich ihre Videos, darunter etwa «Ever Is Over All» (1997), in dem eine Frau in einem adretten blauen Sommerkleid und roten Schuhen lächelnd mit einer Blume Autoscheiben einschlägt. Meine Fantasie und Lust wuchsen und ich setzte mir in den Kopf: Wenn ich gross bin, werde ich rote Schuhe und knallblaue Kleider tragen und etwas mit Kunst machen oder kriminell werden – oder am besten gleich alles.

«Einfach drauflosmachen»

1987 formierte sich die Band in Basel um Muda Mathis, Regina Florida Schmid und Teresa Alonso. Kurz später stiessen Pipilotti Rist und Fränzi Madörin und 1991 Sus Zwick dazu. Andere kamen und gingen, heute bestehen die «kommenden Königinnen» aus Muda Mathis, Fränzi Madörin und Sus Zwick. Seither verbinden die Künstlerinnen mit multimedialen Performances Humor und Sinnlichkeit, feiern die Weiblichkeit, ohne diese zu verklären, bringen Tabus auf den Tisch und verhandeln das ernsthaft Politische poetisch und provokant. Das alles mit einer herrlichen Leichtigkeit.

In den Anfängen nur mit Gesang und Synthesizer, später multiinstrumental und mit vielstimmigen Arrangements, bewegt sich ihr musikalisches Schaffen irgendwo zwischen Pop, Tango, Volksmusik und Wortkunst mit einer Punk-Attitüde, die weit mehr ist als eine Pose. Punk meint hier nämlich, aus einer Betroffenheit und Dringlichkeit «einfach draufloszumachen», wie Mathis sagt. Les Reines Prochaines sind eben Kinder der bewegten 1980er-Jahre, in denen das unbefangene «Drauflos» in allen Lebensbereichen zelebriert wurde. Man hört und spürt diese Haltung noch heute. Mitunter in den leicht schiefen Tönen, die exakt dahingehören, wo sie eben ein wenig stören sollen. Oder in den Schweizerdeutsch-Akzenten, die in fremdsprachigen Texten durchschimmern. Geschliffen, das will diese Band nicht sein, vielmehr geht es um Authentizität, Dringlichkeit und die Lust am Machen.

Eine «Frauenband»

Im Jahr 2012 kam der Dokumentarfilm «Alleine denken ist kriminell» über die Band in die Schweizer Kinos. 2019 wurden Les Reines Prochaines mit dem Schweizer Musikpreis geehrt. Lob, Ehre und Ruhm also. Wie aber kommt es, dass diese Band so lange besteht und keine Anstalten eines königlichen Abgangs macht? «Wir verstehen uns als Autorinnen und Künstlerinnen, und das ist kein Beruf, sondern eine Lebenspraxis. Damit hört man nicht auf», sagt Muda Mathis. Man dankt es ihnen, sind die Künstlerinnen doch nach wie vor Vorbilder für viele, vor allem auch für jüngere Frauen.

«Frauenband», das klingt als Begriff wahlweise despektierlich oder wird, manchmal auch vorschnell, als feministisch gelesen. Entspricht das dem Selbstverständnis von Les Reines Prochaines? Der Feminismus habe ihnen als jungen Frauen die Berechtigung und Motivation gegeben, Musik zu machen, herauszufinden, wie das klinge, wenn Frauen sich artikulieren und «ihre eigene Sache machen». «Ausserdem», sagt Mathis, «Feminismus war und ist bis heute Ehrensache.»

Seit der Gründung der Band sind ein paar Jahrzehnte vergangen, Diskurse haben sich gewandelt, Feminismus ist heute auch ein Hashtag, wird in den Medien mit einer gewissen Selbstverständlichkeit – nicht selten unterkomplex – verhandelt und wird als modisches Accessoire gar zum Verkaufsargument. Kurz: Feminismus ist im Mainstream angekommen. Wie beobachten Mathis, Madörin und Zwick diese Tendenz? Es sei wichtig, dass der Feminismus auch im Mainstream thematisiert werde, meint Mathis. Gleichwohl ersetze dies nicht die Verhandlung in Subkultur, Politik und Wissenschaft.

Körpersäfte und Prothesen

Das Besingen des Menstruationsbluts mag heute nicht mehr gleichermassen provokant sein wie vor 30 Jahren. Dennoch, so Muda Mathis, sei es erstaunlich, wie viele Tabus es noch immer gäbe. Für sie sei es zuweilen erfreulich, dass Nacktheit, Körpersäfte und Prothesen noch immer eine Sensation sein dürfen. Auf die Frage, welche Tabus es in unserer vermeintlich enttabuisierten Gesellschaft noch zu brechen gäbe, sagt Mathis: «Das nächste Tabu, das gebrochen werden müsste, ist, wenn Menschen ohne besondere Fähigkeiten, weder schön noch virtuos, nur ehrlich und wahrhaftig auf die Bühne stehen. Und dort die Leute bestens unterhalten.»

Dank Künstlerinnen wie Mathis, Madörin, Zwick, Rist und anderen bin ich als Kind und Jugendliche mit einer gewissen Selbstverständlichkeit mit einem Weiblichkeitsbild aufgewachsen, das seit jeher positiv besetzt war. «I Wanna Be a Butch» (1999), das war schon immer ironisch gemeint. Wenn ich diese Frauen, alle etwa im Alter meiner Eltern, heute auf der Bühne sehe, erinnern sie mich nicht nur an damals, als ich mir mein Leben als Frau vorstellte, sondern auch daran, dass weder Geschlecht noch Alter noch eine andere Kategorie sich der Lust an der Artikulation und Produktion in den Weg stellen sollten. Für niemanden. Und solange sich die Träume einer Generation nicht restlos erfüllt haben, ist das Träumen davon vielleicht schon subversiv. Oder wie es in einem neueren Song der Band heisst: Schlafen ist individuelle Anarchie.

Les Reines Prochaines
SA 17. Juni, 16.30 Uhr

B-Sides Festival 2023
DO 15. bis SA 17. Juni
Sonnenberg, Kriens


 

041 – Das Kulturmagazin
Juni 06/2023

Text: Anja Nora Schulthess

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