In Facetten erzählt

Wie leben jenische Menschen? Der Dokumentarfilm «Ruäch» liefert keine einfache oder stereotype Antwort auf diese Frage, sondern eröffnet Einblicke.

Zwei Regisseure brechen auf, um Jenische kennenzulernen: Leute im Wohnwagen, ganz wie man sich «Fahrende» vorstellt. So beginnt dieser Film, und so hat wohl auch die Arbeit am Filmprojekt begonnen. Doch die Recherchen und Dreharbeiten sollten sich über Jahre hinziehen. Im Film bringen die Autoren ein weites Spektrum an Themen zur Darstellung. Und ohne dass übergreifend definiert würde, was das denn nun sei, ein jenischer Mensch oder gar eine jenische Familie, wird im Laufe der Filmerzählung jenisches Leben in hiesigen Landen vorstellbar.

Was Jenischsein bedeuten kann

«Ruäch» ist ein Roadmovie und eine filmische Langzeitstudie mit jenischen Menschen in den Hauptrollen. Ob der Mensch als Kärntner Scherenschleifer mit geschäftsführender Frau und kleinen Kindern im Wohnwagen unterwegs ist oder wie die französische Matriarchin und Altmetallhändlerin oder der Bündner Kunsthandwerker ortsfest wohnt – im Chalet, im Haus oder im abgekoppelten Wohnwagen, um von dort aus seinen Geschäften nachzugehen: Was Jenischsein bedeuten kann, wird in diesem Film in Facetten nachvollziehbar.

Die Autoren beginnen naiv fragend, wie Forschende fragen, wenn sie etwas in Erfahrung bringen wollen. Das Projekt von Regisseur Andreas Müller ist im Laufe der Zeit ein gemeinschaftliches geworden: Neben Müller signieren Simon Guy Fässler (auch für die Kamera verantwortlich) und Marcel Bächtiger (auch Schnitt). Filme entstehen in gemeinsamer Arbeit, sagt Andreas Müller im Gespräch. Und dieser Film wäre anders gar nicht machbar gewesen, betont er.

Wie leben Jenische? Was treibt sie an, was ist ihre Geschichte? Die Jenischen in schweizerischen, deutschen, französischen und österreichischen Landen, die sich den Autoren öffnen, geben persönliche Antworten. Manche lassen die «Ruächen» – eine jenische Bezeichnung für Nicht-Jenische – an ihrem Leben teilhaben.

Das wichtigste aller Wörter

Im ersten Teil greift der Film die Selbstbilder der jenischen Protagonist:innen und ihres Umfelds auf. Die Autoren werten nicht und setzen ihrem Gegenüber keine Tabus; der Film spiegelt Verklärung, Romantik, Stolz, wo solches als Teil des Selbstverständnisses zum Ausdruck kommt. Selbst Darstellungen, die althergebrachte Zuschreibungen aufnehmen, haben ihren Platz – in der Gemeinschaft wie im Film. Die jenische Sprache als Geheimsprache, zum Beispiel: eine Sprache, dazu geschaffen, so erläutert es ein reisender Jenischer, dass wir Jenischen, wenn es brenzlig wird, uns insgeheim absprechen können. Im geschilderten Fall konkret: Damit der kleine Sohn vor der Polizei verstecken könne, was diese nicht sehen soll. Ein Topos, wie er schon im 19. Jahrhundert in Polizeiakten steht. Was andere Jenische weit von sich weisen, ist für diesen Familienvater zu einer Wahrheit geworden.

Die Autoren dokumentieren. Manchmal fragen sie nach. Legenden hinterfragen sie nicht. Als Zuschauerin akzeptiere ich dies, weil die Regisseure Drehsituation und Erzählperspektive offenlegen. Hier gesellen sich «Ruächen» zu jenischen Leuten. Was ihnen dargeboten wird, inszenieren sie zuweilen, als arbeiteten sie mit Laiendarsteller:innen an einem Spielfilm, in dem Jenische ihre Kultur darlegen. Familienbande als hohes Gut; Leben in und mit der Natur; und «frei» ist vielleicht das wichtigste aller Wörter. Die Regisseure und der Editor setzen diese Werte gekonnt in Szene, schaffen Bilder und Räume.

Im Hintergrund schwingt von Anfang an mit: Etwas ist verschwunden, wird schmerzlich vermisst. Dass das jenische Leben einst anders war, dringt durch, dass dieses Andere unwiederbringlich verloren ist.

«Da ist eine Sehnsucht aufgekommen», sagt der Miniaturwohnwagenbauer im Film, freundliches Gesicht, offen, geschickter Handwerker, gescheiter Kopf (in einer sorgfältig komponierten Einstellung). In seinem gmögigen Bündner Dialekt erzählt er, wie er kürzlich am Ort vorbeikam, mitten im Wald, wo er im Wohnwagen seiner Mutterfamilie aufgewachsen ist. Der Zusammenhalt in der Familie war gross, der Schulweg lang. Schon das Schulkind erfuhr die Diskriminierung der Gesellschaft wie ein Stigma. «Und trotzdem war es früher schöner», sagt der Mann nachdenklich. Dies sei der Widerspruch, den er selbst nicht begreifen könne, fügt er hinzu.

Der Schmerz der Zerstörung

Erst zum Ende hin, wenn ich in diesem Film Menschen kennengelernt und sie liebgewonnen habe, kommt in einem weiteren Schritt der Schmerz der Zerstörung zur Sprache, zurückhaltend, in wenigen Worten nur – Momente in einer über zweistündigen Filmerzählung. Den Autoren gelingt es, hier herauszuarbeiten, was mit Worten allein unsagbar bliebe.

Menschen, die der Film mir nahegebracht hat, haben die Akte der Zerstörung – in der Nachkriegszeit, bis in die 1970er-Jahre hin-
ein – am eigenen Leib erlebt. Sie sind damit bis heute allein geblieben. Ihr Schmerz und das Geschehen sind nie ins gesellschaftliche Bewusstsein eingegangen. Mit «Ruäch», einem schönen und wichtigen Film, wird diese Leerstelle offengelegt.

Andreas Müller, Simon Guy Fässler und Marcel Bächtiger: Ruäch
CH/DE/FR/AT 2023, 121 Minuten
Jetzt im Kino

Die Schriftstellerin Isabella Huser ist selbst jenischer Abstammung und hat auch Dokumentarfilme produziert. Zuletzt ist ihr Roman «Zigeuner» erschienen (Bilgerverlag, 2021).


 

041 – Das Kulturmagazin
September 09/2023

Text: Isabella Huser

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