Everything you can think of is true? – «Alice» im Luzerner Theater

Luzerner Theater, Donnerstag 28. März 2013. Es gibt ein Wort, dass die Premiere von «Alice» (Inszenierung: Andreas Herrmann) einfängt: schön. Im positiven wie im negativen.

(Bild Ingo Höhn)

Nach «Woyzeck» (2009) zeigt das Luzerner Theater heuer bereits die zweite Kollaboration zwischen Tom Waits, dessen Frau Kathleen Brennan (Ehefrau und Co-Autorin der meisten Waits-Songs seit «Swordfishtrombones») und dem Theaterregisseur Robert Wilson. Man hält sich eng an die Originalregie, was löblich ist. Irritierend hingegen erscheint die Absenz der Abgründe. Ausgangslage: Das Schauspielmusical schliesst die «Alice»-Bücher mit der durchaus dubiosen realen Beziehung zwischen Autor Lewis Carroll und der kleinen Dekanstochter Alice Liddell kurz. Da sind Waits' «schöne Melodien, die schreckliche Geschichten erzählen» (Waits über Waits). Da verbinden sich viktorianische Klüfte mit menschlichen – sublimierten? – Begierden. Da sind ominöse Briefe von Dodgson (wie Carroll mit richtigem Namen hiess) an Alice, verstörenden Figuren, die Monstrosität des Phänomens Zeit an sich. Und: Beinahe das ganze Stück über ist das Zuschauen angenehm, bequem. Wieso nicht? Man erwartete einen irren Trip durch eine verlorene, verworrene Seele und wird anstelle gut unterhalten «als hätte man TV geschaut» (Zuschauerinnen-Zitat). Die Songs, die aufgespielt werden, sind nicht allesamt aus dem Originalmusical. So klingt unter anderem ein Stück aus dem «Black Rider» oder «Bad As Me» von der gleichnamigen jüngsten Waits-Scheibe an. Die gesanglichen Leistungen erinnern von Stimmgewalt und englischer Aussprache der Spielenden schon mal an Kanti-Musical. Was nichts Ehrenrühriges ist, zumal die Schauspieler bis auf Samuel Zumbühl, der Carrolls Part übernimmt, Studierende der Zürcher Hochschule der Künste und Hochschule Luzern Musik sind. Einer der beiden klaren Höhepunkte ist die von Daniel Perrin – der nach «Woyzeck» bereits zum zweiten Mal fürs Luzerner Theater arbeitet – geleitete Band. So unglaublich stimmig schallt es aus dem Orchestergraben, dass man sich mehr instrumentale Parts wünscht. Das andere Highlight ist das Bühnenbild von Max Wehberg. Es unterstreicht die Atmosphäre phänomenal, bereits zu Beginn mit einer mathematischen Figur, die auch innen und aussen, unten und oben abgrenzt. Sowieso das Optische, die ganzen Einfälle und Spielereien: das witzige fliegende Silberviech, die Kostüme, die Darstellung von Humpty Dumpty (ein auf ein riesiges Ei – das die Kinderreimfigur ja ist – projizierter Schauspieler), die ganzen Projektionen überhaupt: Wahrscheinlich sind sie es, die dem Stoff am gerechtesten werden – das Innenleben des Mathematikers und Logikers C.L. Dodgson, des Autors der «Alice»-Bücher Lewis Carroll, das sich nicht fassen lässt und nicht unproblematisch ist. Weshalb brach der Kontakt zu Alice nach sieben Jahren abrupt ab? Warum fotografierte er jahrelang wie besessen kleine Mädchen in Märchenverkleidungen oder nackt? Was war Projektion, was wollte er wirklich von diesen Mädchen, die ihn nach Beginn der Pubertät nicht mehr zu interessieren schienen? War Carroll bloss Kauz oder Pädophiler? Unbequeme Fragen, die im Stück eher stiefmütterlich abgehandelt werden. «Alice» ist schön anzusehen, leicht geniessbar und es wird trotz 2 ¾ Stunden Spielzeit nie wirklich langweilig. Zwei Produktionen einer losen Trilogie rufen nach der finalen dritten und so spekulieren wir nun freudig auf einen «Black Rider» 2016 am Luzerner Theater – jenes Stück, das die Zusammenarbeit von Wilson und Waits 1990 begründete. PS: Tom Waits ist gar nicht «ein bisschen aus der Mode gekommen», wie die Blitz-Kritik des Tagi ins Blaue hinaus behauptet. Auf dieses neue Format, das etwas peinlich wirkt, wollen wir trotzdem noch aufmerksam machen.

Weitere Vorstellungen bis 16. Juni. Tickets hier.