Eröffnung vor der Eröffnung

Unmittelbar vor dem Eröffnungskonzert des diesjährigen Lucerne Festivals eröffnete die Kunstaktion #sichtbarmachung einen politischen Diskurs: Rund 130 Kulturschaffende demonstrierten gegen die desaströse kantonale Finanzpolitik. Und gingen dabei an ihre physischen Grenzen.

(Copyright Titelbild: Silvio Zeder)

Kunst isch gäng es Risiko

Was sich finanzpolitisch im Kanton Luzern abspielt, kann als nichts anderes als ein Trauerspiel bezeichnet werden. Die Prämienverbilligungen sind ebenso in Frage gestellt wie Stipendien, die Budgets der Gymnasien werden gekürzt und selbstverständlich wird auch bei der Kultur gespart. 800'000 Franken oder 40% der Gelder für die freie Kulturszene sollen gestrichen werden. Schon in diesem Jahr.
Das trifft sowohl Institutionen und Kulturbetriebe als auch einzelne Projekte – aber vor allem einzelne Menschen. Die Prognosen sind düster. Und darauf wies die Kunstperformance #sichtbarmachung in eindrücklicher Weise hin. Sie forderte die Kantonsregierung schweigend dazu auf, den Abbau in der Kulturförderung zu stoppen.

Dene wos guet geit

Denn ebenso beklemmend wie der Status quo fiel die Performance aus: Während sich bei der Buvette im Regen die ersten wasserfesten Klassik-Fans für die Live-Übertragung formierten, formierten sich bei der Volière 133 Kulturschaffende. Sie wateten dem Inseli entlang durch den See, entstiegen dem grauen Wasser bei der Buvette und wandelten in Zeitlupe auf den Europaplatz. Sie alle trugen Abendgarderobe – die, ganz durchnässt, die Wirkung eines unheimlichen Trauerzugs entfaltete.

Copyright: Silvan Zeder
Copyright: Silvio Zeder

Auf dem Europaplatz war der chice Empfang vor dem Eröffnungskonzert des Lucerne Festival bereits in vollem Gange: Eine illustre Gesellschaft mit geladenen Gästen aus Politik, Wirtschaft und Kultur bevölkerte das KKL-Foyer. Die Kritik der Performer richtete sich jedoch in keinster Weise gegen das Lucerne Festival. Im Gegenteil: Es ist dem Festival hoch anzurechnen, die Plattform zur Verfügung gestellt zu haben und die Aktion so – zumindest ideologisch – zu unterstützen. Manuel Kühne, Schauspieler und Mitinitiant der Performance, sagte richtigerweise: «Wir sitzen alle im gleichen Boot. Letztes Jahr traf es die grossen Institutionen, dieses Jahr trifft es die Freie Szene, nächstes Jahr sind wieder die anderen dran.» Die Kritik richtete sich einzig gegen die Finanzpolitik des Kantons Luzern.

Är isch vom Amt ufbotte gsi

Dass solche Synergien möglich werden, ist vielleicht die einzige Sonnenseite der aktuellen Schlechtwetterlage. Lucerne Festival fragt diesen Sommer nach Identitäten. Die Kunstaktion fragte nach der Identität des Kantons Luzern. Aus gutem Grund: Die Identität einer Region muss kulturell geformt werden. Ein italienischer Cellist aus dem Lucerne Festival Orchestra sagte vor wenigen Tagen, er nehme die Stadt Luzern als offen, international und musikalisch wahr. Und warum? Weil er und mit ihm hunderte von Musikern jeden Sommer nach Luzern kommen und Kultur verbreiten. Er erlebt die Stadt von ihrer Schokoladenseite; so viel kultureller Input führt während des Festivals tatsächlich zu Offenheit und Musikalität. Nie erlebt man Luzern so mondän wie in diesen vier Wochen.
Es genügt nicht, die Kultur oder den Mythos eines Ortes zu konsumieren; erst wenn die Bereitschaft zur kritischen Hinterfragung der Gegebenheiten und zur Intervention vorhanden ist, entstehen ein konstruktiver Vibe und eine kulturelle Identität. Das tun die Musiker am Lucerne Festival. Und das tat, in enorm konzentrierter und kompromissloser Form, die Kunstaktion heute Abend. Dieses Engagement mit finanziellen Kürzungen buchstäblich den Bach – oder den See – runtergehen zu lassen, zeugt von wenig Verantwortungsgefühl seitens der Kantonsregierung.

Copyright: Silvio Zeder
Copyright: Silvio Zeder

Rund zwanzig Minuten standen die 133 Kulturschaffenden in triefend nassen Kleidern vor dem KKL, bevor sie zurück zum See schritten und zitternd durch das Wasser zurück zur Buvette wateten. Fast erinnern die Bilder an die künstlerische Protestaktion «1000 Gestalten», die am 5. Juli 2017 als Kritik am G20-Gipfel in Hamburg durchgeführt wurde. Doch die Botschaften unterscheiden sich: Wirkte die Hamburger Message (der Kapitalismus entfremde den Menschen von sich selber) etwas gar pädagogisch, ging es heute Abend in Luzern darum, die drohenden existenziellen Nöte der Luzerner Kulturschaffenden sowie alle weiteren negativen Folgen des harschen, bürgerlich-maskulinen Kantonssparkurses sichtbar zu machen. Leider war #sichtbarmachung kein schönes Wetter vergönnt – die Aktion gelangte aber zu noch mehr Dringlichkeit und Kompromisslosigkeit, weil die Kälte, das physisch Unangenehme, in symbolträchtiger Weise die politische Stimmung repräsentierte.

I han es Zündhölzli azündt

Das Lucerne Festival Orchestra interpretierte wenig später mit seinem neuen Chefdirigenten Riccardo Chailly Richard Strauss’ Tondichtung «Also sprach Zarathustra» op. 30, zu deren Komposition Strauss durch Friedrich Nietzsches gleichnamiges Opus Magnum angeregt wurde: Zarathustra predigt auf dem Marktplatz vom Übermenschen und ruft zur «Umwertung aller Werte» auf. (Wem das Stück nicht bekannt sein sollte, dem sei zur Einführung wahlweise Stanley Kubricks «2001: A Space Odyssey» oder dieser dramatic Lemur empfohlen.)
Schon die ersten paar Takte zeugten vom dramatisch-opernhaften Zugang, den Riccardo Chailly zu dieser wundervollen Musik wählte. Das Orchester überzeugte (soweit man das vor der Regen-Soundkulisse auf dem Inseli beurteilen konnte) durch seinen kernigen und doch überaus exquisiten Klang.Copyright: Katharina Thalmann

Auch Richard Strauss war kulturpolitisch aktiv. Sein zentrales Anliegen bestand darin, die Stellung des Musikers (also des Künstlers) in der Gesellschaft neu zu definieren. Und er wollte, dass Künstler ebenso fair bezahlt werden, wie alle anderen Berufsgruppen. Er setzte sich deswegen Vorwürfen wie übertriebener Geschäftstüchtigkeit und Geldgier aus – Unterstellungen, gegen die sich Kulturschaffende bis heute bisweilen verteidigen müssen.
Aus Strauss’ Bemühungen resultierte letztendlich das Urheberrecht auf kulturelle Beiträge: Am 14. Januar 1903 entstand die Genossenschaft Deutscher Tonsetzer. Ein halbes Jahr später gründeten Strauss und der Vorstand die Anstalt für musikalisches Aufführungsrecht – der Vorläuferin der heutigen GEMA, des deutschen Pendants zur SUISA. Strauss’ Engagement lohnt sich auch ein Jahrhundert später noch. Womit wir beim Zündhölzli angelangt wären.