Einer dieser Momente

Südpol, Kriens, 26.06.2019: Mit ihrem fünften Studioalbum im Schlepptau macht Julia Holter halt in Kriens. Eine Performance, die weniger experimentell ist als erwartet, und trotzdem alles ist, was man wollte.

Manchmal gibt es diese Momente im Leben, die wie Markierungen im Gedächtnis hervorstechen. Oft spielt dabei Kunst eine zentrale Rolle: Es gibt Augenblicke, da kommt ein Werk zur richtigen Zeit. Dann stimmt alles ganz genau. Doch sind dies Ereignisse, die in keiner Biografie erwähnt werden, ausser in der, die man sich selber erzählt.

So erinnere ich mich beispielsweise an einen heissen Sommertag in Istanbul, als ich vor einem Gemälde des russischen Malers Iwan Aiwasowski verweilte und mich von der Wucht der darauf abgebildeten See mitreissen liess. Ich weiss, welche Arbeit ich liegen liess, als in Henry Rollins' Radioshow ein Album von Can in voller Länge abgespielt wurde und mir ein musikalisches Tor öffnete, von dem ich nicht mal wusste, dass es verschlossen war.

So ist es auch mit Julia Holter. Ich weiss ganz genau, wo ich war und was ich getan habe, als ich zum ersten Mal einen ihrer Songs hörte. Im Musikpodcast eines britischen Schriftstellers, bei dem eigentlich nur Lieder aus dem Bereich Ambient und Drone gespielt werden sollten, erklang vor einigen Jahren plötzlich eine Melodie, die meine Neugier packte und mich nicht mehr losliess. Ich musste nachsehen. Julia Holter «Godess Eyes I». Und seither kreuzen sich die Wege ihrer Musik und meines Lebens immer.

Komplexität leicht gemacht

Mit ihrem mittlerweile fünften Studioalbum «Aviary» im Gepäck stand sie am Mittwochabend auf der Bühne des Südpols, präsentiert vom Label «Boa im Exil», das als Garant für aussergewöhnliche und spannende Musik gilt. Auch an diesem Abend wird es dem Gütesiegel gerecht. Etwas skeptisch ist man dennoch, denn einerseits sind die Erwartungen ziemlich hoch, und andererseits ist «Aviary» ein sehr komplexes, nicht im Geringsten leicht zugängliches Album. Richtig gut wird es erst, wenn man sich die Zeit für mehrere Durchläufe nimmt. Es stellt sich die Frage, ob die Live-Performance ebenso komplex wird.

JuliaHolter

Doch die Sorge ist unberechtigt. Mit einer fünfköpfigen Band führt Julia Holter ein gefesseltes Publikum locker mit einer Prise trockenen Humors durch den Abend und ihr Repertoire. Mit Violine, Trompete, Kontrabass, Schlagzeug, Synthies, Keys und einem Dudelsack wird eine bezaubernde Klangwelt erschaffen. Avant Pop, Dream Pop, gesprenkelt mit klassischen Harmonien. Die Performance bleibt dabei viel zugänglicher, als zu erwarten war. Die experimentellen Ausschweifungen beschränken sich auf ein Minimum. Aber auch die Performance belohnt eine geduldige Zuhörerschaft. Die Songs entfalten sich meist langsam vor einem, fordern ein Mitkommen. Nur allzu gerne lässt man sich von dieser Musik umgarnen.

Über all den Klängen, der weinenden Trompete, der kreischenden Violine, schwebt Holters Stimme. Jede Nuance wird vom Mikrofon aufgefangen und ans Publikum weitergegeben. Hypnotisch. Charismatisch. Tief, hoch, laut, leise, flüsternd, schreiend. Die Kontrolle, welche die Kalifornierin über ihr Stimmorgan hat, ist beeindruckend. Man würde die Augen nicht von ihr abwenden, wäre es nicht so schön, sie auch zu schliessen und in diese Welt der Julia Holter einzutauchen. Es ist einer dieser Momente.

Die Rezension gefällt? Hier gibt's alle Texte von Nikola Gvozdic!