Ein verliebter Idealist

Luzerner Theater, 05.11.2016: Mit «Der Menschenfeind» feiert das neu zusammengesetzte Schauspielensemble seinen Einstand auf der grossen Bühne. In gereimten Sätzen wird die im Angesicht des postfaktischen Zeitalters höchst aktuelle Frage nach der Wahrheit verhandelt. Eine kurzweilige, klug und pointiert inszenierte Komödie.

(Bilder: Ingo Höhn)

«Nein, keinen lass ich aus. Ich hasse alle, alle.» Alceste (Christian Baus), der selbsternannte «ehrliche Mann», hat die Schnauze voll vom gesellschaftlichen Parkett; von Heuchelei, Schönfärberei und falscher Freundschaft. Sein negatives Menschenbild zelebriert der Idealist kompromisslos, er hasst, kritisiert und verreisst, was ihm nur begegnet. So auch das Sonett des Höflings und Poeten Oronte (Hans-Jörg Frey), der von Alceste zwar ausdrücklich Ehrlichkeit verlangt, vom Verriss aber derart gekränkt ist, dass er vor Gericht zieht. Alceste sieht sich in seinem negativen Menschenbild bestätigt und konstatiert: «Wenn einer immer das sagt, was er denkt, wird ihm in diesem Lande nichts geschenkt.» Auch Philinte (Jakob Leo Stark), Alcestes ständig um Vermittlung bemühter Freund, kann ihn nicht davon überzeugen, sich mit Mensch und Gesellschaft zu versöhnen.

Der Menschenfeind

Wäre der Menschenfeind in Molières 1666 uraufgeführter Komödie nicht unsterblich verliebt, die Geschichte wäre zu Ende. In der unkontrollierten, nicht vorgesehenen Liebe des Idealisten aber zeichnet der Autor eine zutiefst gespaltene Persönlichkeit, welche in dieser Zerrissenheit für die Komik sorgt. Célimène (Stefanie Rösner) ist die junge, unbeschwerte Witwe, in die Alceste so schwer verliebt ist, dass er zuweilen vor Selbsthass trieft. Doch er ist nur einer von unzähligen Verehrern, denen Célimène, einem Chamäleon gleich, Hoffnungen macht und Liebesglück verspricht, ohne es einzulösen. Sie geniesst das Spiel um Aufmerksamkeit, ist charmant und herablassend zugleich und orientiert sich an einem situativen Wahrheitsideal: Wahr ist, was ich im Moment fühle. Diese Wahrheit kennt keine zeitliche Kontinuität und führt schliesslich zum grossen Stelldichein, als ihre vier Verehrer Alceste, Oronte, Acaste (Yves Wüthrich) und Clitandre (Lukas Darnstädt) gegenseitig aus ihren Liebesbriefen vorlesen und die Intrigen ans Licht bringen. Dass Alceste am Schluss sein Ideal der Liebe vorzieht – und damit den Gang in die Einsamkeit provoziert, denn der zu keinem Kompromiss bereite «honnête homme» ist nicht gesellschaftskonform – ist konsequent und ermöglicht dem Taktierer Philinte sein Liebesglück mit Eliante (Alina Vimbai Strähler).

Der Menschenfeind

Niklaus Helbling inszeniert den Konflikt zwischen Prinzipientreue und Kompromissbereitschaft ohne viel Schnickschnack, lässt den Salon als immer gut ausgeleuchtete Lounge der Eitelkeiten erkennen und untermalt diese mit einem mal dezenten, mal club- und tanztauglichen elektronischen Soundteppich, der per Fernbedienung von den durch das Band überzeugenden Schauspielern mit ihren futuristischen Frisuren (Kathrin Krumbein) immer wieder an- und abgestellt wird. Im Zentrum des Bühnenbildes (Elke Auer) steht ein grosses Auge: offen, wenn der Zuschauer auf die Bühne sieht, zu, wenn der Vorhang unten ist. Auf der Bühne gibt es kein Verstecken. Alles kann beobachtet werden. Was hat dieses Big-Brother-Auge mit der Wahrheit zu tun? Auf den ersten Blick könnte man meinen, Transparenz und Wahrheit bedingen einander. In einer durchsichtigen, von Informationen überfluteten Welt ist es aber kaum mehr möglich, Informationen auf ihren Gehalt zu prüfen. Soziale Netzwerke werden zum Echoraum und verleiten dazu, nur das als wahr zu akzeptieren, was man zu sehen bekommt und ohnehin schon zu wissen glaubt. Die Wahrheit verliert ihre zeitliche Kontinuität und wird situativ. Willkommen im postfaktischen Intrigenspiel um Aufmerksamkeit. Alcestes Plädoyer für mehr Aufrichtigkeit in einer Welt voller Lug und Trug kommt da genau richtig – aber ähnlich wie bei Alceste in der Pariser Gesellschaft endet die absolute Aufrichtigkeit auch heute in der Menscheninkompatibilität. Es bleibt kompliziert. Das Stück läuft noch bis am 30. Dezember 2016. Alle Aufführungsdaten & weitere Informationen: www.luzernertheater.ch/dermenschenfeind