Ein Träumer im moralischen Sumpf

Theaterpavillon Luzern, 06.01.2016: Das Theater Nawal feierte gestern nebst seinem 5-Jahr-Jubiläum auch die Premiere von «Der Elefantenmensch». Mit seiner 70. Inszenierung gelingt Reto Ambauen ein durch und durch gelungenes Stück.

Daumen wie Radieschen, Finger wie Wurzeln und dazu Blumenkohlhaut – «Mutter Natur, wie sie rast und tobt.» Von der Toberei betroffen ist der 1862 geborene John Merrick, aufgrund seiner schweren Deformationen genannt: «Elefantenmensch». Ausgestellt auf Jahrmärkten ergötzt sich die Masse an seinem Äusseren, bis ihm der Chirurg Frederick Treves einen Aufenthalt im London Hospital ermöglicht. Mit dem Versuch, ihn soweit als möglich an die Gesellschaft anzupassen, bleibt Merrick jedoch ein Forschungs- und Sensationsobjekt, bei seinem Anblick rennt das Personal schreiend davon. «Wäre schön da, wo mich keiner sieht», so Merrick, der im Gegensatz zur Meinung der Allgemeinheit nicht etwa geistig zurückgeblieben ist. Im Gegenteil scheint er der einzige zu sein, der die bestehende Ordnung kritisch hinterfragt und Treves mit seinem Grundsatz «Die Regeln machen uns glücklich, weil sie zu unserem Besten sind» vor den Kopf stosst. Bernard Pomerance schrieb das Stück über Merricks Lebensgeschichte auf der Grundlage von Treves Notizen, 1979 wurde es das erste Mal aufgeführt. Damals wie heute stellt sich die Frage nach den Grenzen gesellschaftlicher Akzeptanz. Ab wann sehen wir etwas nicht mehr als «normal» an? Was braucht es, um einer Norm zu entsprechen? «So wenig wie ich seinen Zustand verstehe, verstehe ich meinen eigenen. Stimmt etwas nicht mit uns?» hinterfragt sich dann auch Treves.

D02_3274

«Wenn eure Barmherzigkeit so grausam ist, wie muss dann eure Gerechtigkeit sein?» Die Geschichte von John Merrick – mit richtigem Namen Joseph Carey Merrick – ist kein leicht zu schluckender Stoff. Die Zuschauenden versinken heute aber nicht in der Schwere des Stücks, Trübsal blasen ist definitiv nicht angesagt: Mit viel Witz an den richtigen Stellen sorgt die Schauspieltruppe gekonnt für Auflockerung. Wie das geht, haben sie schon mit der letztjährigen Produktion «Ein Mann, zwei Chefs» bewiesen. Zur schauspielerischen Leistung sei auch dieses Jahr gesagt: Hut ab! Was Reto Ambauen mit seinem Ensemble auf die Beine gestellt hat, ist Leistung auf höchstem Niveau, von Laientheater kann kaum die Rede sein. Allen voran brilliert Peter Huber als zutiefst berührender «Elefantenmensch». Wie zum Himmel spielt man einen deformierten Menschen? Er weiss es auf jeden Fall. Die anderen Spielenden fallen aber auf keine Weise ab, eine Stärke des Theater Nawals. Ihre Spielfreude scheint ungebremst und die Gruppe gut aufeinander eingespielt. Ebenfalls fester Bestandteil und nicht wegzudenken ist Christov Rolla, der (nicht nur) musikalisch durch den Abend führt. Für einen wahren Hingucker sorgt mit den sorgfältig abgestimmten Kostümen Werner Duss.

D02_3000

Womit das Stück auftrumpft sind die witzig-klugen Gedanken John Merricks, die nicht selten die Poesie streifen. «Manchmal glaube ich, mein Kopf ist so gross, weil er voller Träume ist. Wissen Sie, was passiert, wenn sie nicht raus können?» Eine Inszenierung mit viel Präzision und schönen Gedankenspielen, die berühren. «Hereinspaziert! Treten Sie ein und zeigen Sie keine Scheu!»

Theater Nawals «Der Elefantenmensch» ist noch bis am 30. Januar im Theaterpavillon Luzern zu sehen. Inszenierung: Reto Ambauen, Regieassistenz: Elsbeth Saurer Musikalische Leitung: Christov Rolla; Bühne: Valérie Soland; Kostüme und Maske: Werner Duss; Lichtdesign: Martin Brun; Grafik: Ruth Schürmann; Sprechtraining: Silvia Planzer; Produktionsleitung: Irene Wespi; Gemalte Projektionen: Matthias Egger. Spielerinnen und Spieler: Marcel Grüter; Florian Fischer; Virginia Gisler; Marcel Grüter; Andrea Kammermann; Zora Schelbert; Anna Stammler; Christov Rolla; Jeremias Bachmann.