Ein Hoch auf die 1980er und 1990er Jahrgänge

Galerie am Leewasser, Brunnen SZ, 28.11.2015: Bereits zum dritten Mal findet die Jungkunstausstellung «Make Make» in der Galerie am Leewasser in Brunnen statt und auch dieses Jahr entstammen die Künstlerinnen und Künstler allen Himmelsrichtungen der Schweiz und eine Position kommt aus Deutschland. Eine Kunst-Nabelschau von 1980er- und 1990er-Jahrgängen.

Die Kuratorin Catherine Amstad konzipiert eine jährliche Überblickschau an neuen und innovativen Arbeiten vielversprechender junger Schweizer Künstlerinnen und Künstlern, die noch im Studium sind oder es kürzlich abgeschlossen haben. Charakteristisch für die Ausstellung ist die enorme gestalterische und materielle Bandbreite, die sich auf den drei Stockwerken der Galerie am Leewasser verteilt. Nachfolgend einige Worte zu den ausstellenden Jungkunstschaffenden. Dexter Maurer (*1994, Porrentruy JU) Als Kind hatte er neben der Bekanntschaft mit Dextro-Energy-Traubenzucker wohl auch diejenige der Welt von Comics und Animationen gemacht. Er illustriert vorwiegend fantastische, surreale Welten, wo sich das Bizarre und Absurde gleichwohl Guten Tag und Gute Nacht sagen und ein schillerndes Licht auf die menschliche Psyche, Ängste und Emotion geworfen wird. Dexter Maurer zeichnet Motive im Zwischenbereich von Mensch und Tier, Natur und Künstlichkeit und versinnbildlicht Stichworte wie Einsamkeit, Traurigkeit und Tagträumerei. In einigen Arbeiten beschäftigt er sich, vornehmlich in schwarz/weiss, mit der Grenzzone zwischen Himmel und Erde, verortet menschliche Figuren stehend, liegend oder sitzend in die gezeichneten Landschaften. Eine weitere Serie vereint farbige Illustrationen, die eine träumerisch-surreale Welt vermitteln, in welcher Libellen und Heissluftballone zu den zentralen Akteuren avancieren.

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Tizian Merletti (*1990, Seuzach ZH) Eigentlich wollte Tizian Merletti für seine Abschlussarbeit an der Hochschule Luzern im Studiengang «Illustration fiction» ein Comic über ein Dorf zeichnen, wie beispielsweise sein Heimatdorf Seuzach bei Winterthur. Beim Umsetzen des Vorhabens hat er gemerkt, dass alleine die Aktivitäten auf den wenigen Quadratmetern von Balkonia eine eigene Untersuchung wert ist. Schlussendlich hat er sich nur noch auf die Balkone fokussiert, um diesen Kleinstkosmos in möglichst vielfältigen und charakteristischen Beispielen darzustellen, ja beinahe Psychoanalyse zu betreiben. Der Titel seiner Arbeit lautet passenderweise VIVARIA, in Anlehnung an die transparenten Behälter, in denen kleine Tiere zu Forschungs- und Beobachtungszwecken gehalten werden. Seine eigenen, durchaus voyeuristischen Beobachtungen von Balkonia-Alltagen hat er mit einem Fineliner festgehalten. Der Strich ist auf das Wesentliche reduziert, minimalistisch und vielsagend gleichzeitig. Mit viel Witz, Ironie und einer Prise Sarkasmus übersetzt er die Balkonsituationen auf Papier: So tummeln sich 1. August-Fanatiker, Hobbygärtner, bei welchen die Achselhaare dieselbe Schnittform wie die Pflanzen haben, schludrige Handwerker und Möchtegern-Sportler mit viel Ambition und Herzblut auf sich wiederholenden Balkon-Darstellungen. Das Resultat für die Abschluss-Werkschau war ein Leporello, ein Faltbüchlein mit den gezeichneten Balkonszenen. Für die Präsentation in den obligaten Werkschau-Kojen hat Tizian Merletti einige der Szenen mit Karton nachgebaut und fassadenartig als kleine Modelle an die Ausstellungswand montiert. Für die Ausstellung im Leewasser hat er die Modelle neu konzipiert und arrangiert.

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Mirko Kircher (*1991, Schweiz) Auf seiner Website erklärt er explizit seine Haltung zur Kunst, was für junge Künstler nicht selbstverständlich ist: „Mit meinen Bildern versuche ich eine Geschichte zu erzählen. Vielleicht ist es meine eigene, vielleicht aber auch die von all denjenigen, die sich in den Bildern selber wiedererkennen. Blind durch den Drang zur Suche nach geeigneten Bildinhalten habe ich versucht mich wieder auf die grundlegenden Dinge zu konzentrieren. Auf mich selber, mein soziales Umfeld, auf all die Menschen mit denen ich mein Leben teile und die mich inspirieren. Lange Wochenenden, tiefe Freundschaften, Exzess, Glitzer und Co. sind Bildinhalt und Teil meines Lebens zugleich. Man soll mit wachsamem Auge durch die Bilder wandern auf der Suche nach etwas, was ich selber nicht in Worte fassen kann und doch so offensichtlich ist. Nennt es Liebe, Lifestyle oder wie auch immer.“ Nennen wir es eine klare Ansage, Kunst machen und Kunst leben zu wollen. Dieses Motto verkörpert auch sein aktuellstes Projekt unter dem Titel ALL THESE YOUNGSTARS, das aus rund 30 Werken besteht. Zwei grossformatige Arbeiten, fast zwei auf drei Meter gross, sind in der Ausstellung MAKE MAKE III im Leewasser ausgestellt. Siebdruck und Mischtechnik gehören zu seinen bevorzugten Malmitteln, bei welchen er sich in den letzten Jahren über pausenloses Experimentieren (während und auch nach der Schulzeit und wenn es sein muss die ganze Nacht lang) eine Vielzahl raffinierter Techniken und Strategien angeeignet hat. Vor allem das stete Überdrucken mit immer neuen Motiven und Formen und Farben, grössere und kleinere, von grellbunt bis mattschwarz setzt Mirko Kircher (oder Sugar Mirko wie er sich im WWW nennt) gekonnt ein, um komplexe Narrationen innerhalb der Werke hervorzurufen. Unübersichtliche, spontane Kompositionen sowie scheinbar willkürliche Farbkombinationen zeigen die Überreste einer durchgeplanten Schlacht der Farben und Formen auf der Leinwand. Als Kunsthistoriker bekommt man den Verdacht, die beiden Schwergewichte der Gegenwartskunst – Sigmar Polke und Martin Kippenberger – haben 48h durchgefeiert und ihre Impressionen in einem Gemeinschaftswerk festgehalten.

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Susi Hinz (*1988, Naumburg an der Saale, Deutschland) Wer ab und zu beim Asiaten eine Portion Nudeln oder Reis konsumiert, kennt diese Dinger in allen Grössen, Farben und Formen: Winkekatzen oder wie sie im Japanischen heissen: Maneki-neko, sind ein beliebter Glücksbringer im asiatischen Kulturraum. Bevorzugt in Eingängen von Läden in Einkaufspassagen, Restaurants, Bordellen und Lotterien aufgestellt, sollen die Winkekatzen durch ihr unablässiges Winken Kunden anlocken und Glücksgefühle verbreiten. Die Skulpturen von Susi Hinz haben nicht mehr viel mit dem Erscheinungsbild einer Katze zu tun, sondern sind auseinandermontiert, auf ihre technischen Bestandteile reduziert und anschliessend wieder so zusammengefügt worden, dass der goldene Winkearm zum zentralen Objekt avanciert. Laut den Worten der Künstlerin steht der „winkende, gülden anmutende Arm sinnbildlich für eine trügerische Geste des ‚Willkommen Heissens’, um gleichsam sein Gegenüber mit fälschlichem Schein zu täuschen und ihm den Dolchstoss zu versetzen. Und tatsächlich haben die kleinen Figürchen an Niedlichkeit verloren und verkörpern etwas Rebellisches und Latent-Aggressives. Wer getraut sich, Ihnen zu die Hand zu reichen?

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Linda Wunderlin (*1982, Basel) Eine Lehre und sieben Gesellenjahre als Steinbildhauerin hat Linda Wunderlin in ihrem jungen Leben absolviert. In ihrem eigenen Atelier in Sissach entstanden, präsentiert sie in der Ausstellung drei verschiedene Werkgruppen. Man wird auch nicht jünger, Constantin. Am Boden liegend, mit geschlossenen Augen und leicht hängenden Wangen, er scheint definitiv noch älter geworden zu sein, einer der berühmtesten Bildhauer des 20. Jahrhunderts; der Rumäne Constantin Brancusi. Linda Wunderlin fertig in Marmor eine sanfte Liebeserklärung an einen, der die Bildhauerei (und das Design der Xbox 360) wie kaum ein Anderer geprägt hat. Die Künstlerin nimmt diese reduzierte und zurückhaltende Formensprache auf und realisiert ihre Arbeiten in unterschiedlichen Materialien wie Holz, Beton, Stein. Eine weitere Parallele zu Brancusi lässt sich bei den vier Holzskulpturen erkennen. In der Art seiner bekannten, abstrakt-reduzierten Skulptur L’Oiseau dans l’espace (Der Vogel im Raum) streben auch Wunderlins Arbeiten in die Senkrechte nach oben in den Ausstellungsraum.

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Form follows Process Die Skulpturengruppe ist durch eine spezielle Form der Bildhauerei entstanden; dem «taille directe». Hierbei wird der traditionelle und schon mal per se aufwändige Entwicklungsprozess einer Skulptur (Skizze – Reinzeichnung – Modell - Übertragung) beiseite gelassen und direkt im Endmaterial gearbeitet. Die Form wird auf diese Weise nicht von Anfang an bestimmt, sondern entwickelt sich während der Arbeit. Material und Werkzeug bestimmen die Formensprache und der Bildhauer reduziert sich selbst zum Instrument. So entstanden fliessende, sich windende und aufsteigende Formen die in ihrer Erscheinung die Illusion von etwas natürlichem Gewachsenen erhalten. Auch die Steinskulpturen folgen dem Prinzip des Sich-nach-oben-Windens aus einem kubischen Sockel heraus. Ein bisschen an Soft-Ice und Twister-Glace erinnert, schlängelt sich das Material wellenförmig und flammenartig in den Raum hinein und wirkt auf eine spannende und beruhigende Art und Weise gleichzeitig dynamisch und statisch. Man lässt sich zum poetischen Aphorismus hinreissen; In Stein gemeisselte Leichtigkeit.

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Kunst aus Bau Hier vereint Linda Wunderlin die Gegensätzlichkeit von Männlichkeit und Weiblichkeit. Archaische, männlich konnotierte Materialien wie Beton, Armierung und Schaltafel treffen auf die absolut weiblichen Formen eines voluminösen Torsos. Fabio Melone (*1984, Kreuzlingen TG) Collagen und Illustration sind zwei Steckenpferde der künstlerischen Tätigkeit von Fabio Melone, die hier in der Ausstellung Platz bekommen. Durch das Zusammenfügen von gefundenen Bildern und Fotografien kreiert er vornehmlich abstrakt-figurative Gesichtspartien. Er experimentiert mit Strukturen und Mustern aus Hochglanzpapier, Farbe und Schwarz/Weiss-Abbildungen. Inspirationsquellen für seine Arbeiten sind fremde Kulturen, die er auf Reisen für sich entdeckt und in seine Kunst hineinfliessen lässt. Die inhaltliche Thematik dreht sich um Identitätsfragen, nach Ursprünglichkeit (Woher kommen wir? Wohin gehen wir?) und den Ausdruck einer individuellen Persönlichkeit.

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Anita Weibel (*1985, Rorschach) Rund 5 Minuten dauert die Videoperformance von Anita Weibel. malplena, so der Titel der Arbeit, ist Esperanto und bedeutet VAKUUM, das Nichtausgefülltsein oder die Leere. Die Videoperformance besteht aus zwei Sequenzen die inhaltlich und formal Bezug zueinander nehmen. Im ersten Teil ist eine Frau im schwarzen Spitzenobertei und teilweise mit einem Schleier verhüllt, blickt regungslos in die Kamera bis sie beginnt, ihren Schleier zu heben und dadurch den Blick auf eine deformierte Gesichtspartie frei gibt. Irritiert, bisweilen erschrocken sieht man in den Mund der Frau, in dem ein schwarzes Loch aufzuklaffen scheint. Man blickt auf ein schwarzes, undefinierbares, rundes Volumen, das aus dem Mund herausgepresst wird. Die Wangen sind eingesogen und der Unterkiefer verschwindet in der Dunkelheit des Schattenwurfs. Unheilvolle und düstere Assoziationen treten hervor. Die Kostümierung und das dunkle Setting stilisieren die dargestellte Figur zu einem Orakel, das zwischen Geburt und Tod zu changieren scheint. In der zweiten Sequenz ändert sich der Blickwinkel der Aufnahme und die Frau trägt eine halbkugelförmige Glasschüssel mit dunkler Flüssigkeit (es handelt sich um Bio Cassis Saft) in ihren Händen. Die Flüssigkeit korrespondiert mit der Atmung und nimmt deren Rhythmus auf, bis kurz vor dem Überschappen ein Zucken durch die Hände geht und ein Gegenstand von oben in die Flüssigkeit prallt. Im letzten Moment vermag die Frau das Runterfallen der Glasschüssel zu stoppen, während die dunkle Flüssigkeit ausfliesst. Körper und Objekt sind zentrale Bestandteile in den experimentellen Performances von Anita Weibel. Figur, Handlung, Umgebung und Audio spinnen sich zu einem Assoziationsraum zusammen. Die Künstlerin hat den Anspruch, durch gezielte Anspielungen einen bestimmten Assoziationsraum abzustecken, innerhalb dessen inhaltliche Ansätze aufeinander treffen und sich überlagern. Die dabei eingesetzten visuellen und auditiven Elemente haben nicht den Anspruch eindeutige Gedankenverbindungen hervorzubringen, sondern lassen eine Mehrdeutigkeit entstehen. Sie setzt uns als Betrachtende gewissermassen in einen vakuumartigen Zustand, dessen Leere mit unseren eigenen Assoziationsketten gefüllt werden kann.

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Attila Maria Wittmer (*1990, Luzern) Das Portfolio, man bemerke nur von seiner Serie GRENDE, misst stolze 57 Seiten und auf jeder Seite sind mindestens zwei Zeichnungen dargestellt. Attila ist ein Sinnbild, ein regelrechter Inbegriff für einen Bilderfluss, ein Ventil, das wenn es einmal geöffnet ist, eine unzähmbare Maschinerie an Kreativität und Experimentierfreude an den Tag legt. Ich würde gerne mal mit seinen Augen durch die Welt ziehen, wie wohl die menschlichen Antlitze daher kommen, wenn man hunderte, tausende (und wenn er so weitermacht auch hunderttausende) Zeichnungen und Malereien von abstrakten, verzerrten, minimalistischen Gesichtern und Körpern angefertigt hat? Er zeigt im Leewasser eine Auswahl seiner neusten Werke. Schnelle Zeichnungen, gestische Malerei, Spray-Interventionen und die daraus resultierenden, charakteristisch-angedeuteten Gesichtszüge definieren seine Arbeiten und haben gefundenes Holz in unterschiedlichen Formaten als Bildträger. Vielleicht gerade deswegen habe ich mich an den Wilson Volleyball im Hollywoodstreifen Castaway mit Tom Hanks erinnert gefühlt. Der anfangs überflüssig erscheinende Volleyball bekommt existenzielle Bedeutung dank einer stilisierten Gesichtsfratze und avanciert so zum stummen Freund des Gestrandeten. Diese Assoziation vermag äusserst subjektiv sein, aber auch Attila Maria Wittmer transformiert die trivialen, asymmetrischen und auf den ersten Blick wertlosen Holzstücke mit seinen Eingriffen zu wesensartigen Kreaturen.

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Die Ausstellung MAKE MAKE III in der Galerie am Leewasser in Brunnen SZ ist noch bis am am 19. Dezember 2015 geöffnet.