Ein Betrunkener hebt seinen Kopf, schaut mich an, sagt er wolle mir alles erzählen, und schweigt.

Viel findet statt in der Stadt Luzern. Man glaubt sich eigentlich informiert, aktuell. Dennoch zieht einiges an einem vorbei. Die Seniorenuniversität bietet seit geraumer Zeit spannende Vorlesungen an. Eigentlich befindet sich der Autor ja noch nicht in der Zielgruppe. Trotzdem. Heute referiert Dr. Josef Bättig über Peter Bichsel (Bild). Beide sind eigentlich recht sympathisch. Pablo wird vom Institutsleiter, Herrn Dr. Meyer, persönlich herzlich begrüsst. Er freut sich. Das gibt’s heute sonst eigentlich nirgends mehr. Die Vorlesung ist spannend. Das heutige Alter hat Humor. Reich-Ranicki wird sanft gebasht.

 

Ort: Lukassaal, Luzern Zeit: 15:00 Uhr Wetter: Öffnend Stimmung: Lebendig Leute: Aufgeweckt

Goethe hatte diese fixe Idee einer Urpflanze, der alle anderen entsprossen sind. Er suchte nach ihr. Glaubte sie gefunden zu haben. Peter von Matt wandelt diesen Trampelpfaden nach. Sein Gral ist der Ursatz in Bichsels Werk. Der (temporäre Be-)Fund: Die Zeile im Titel dieses Berichts. Zurück zum Start. Noch einmal Würfeln.

Am Anfang ist ein Abo. Und jemand, der es verloren hat. Anschliessend begrüsst Herr Dr. Meyer Herrn Dr. Bättig. Der Lukassaal ist gefüllt. Beinahe bis zum letzten Platz. Der Referent konfrontiert uns schnurstracks mit der Bichsel'schen Welt. Beginnend mit einem Zitat aus dem Erstling «Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennen lernen». Bichsel ist 1935 in Luzern geboren. Wächst in Olten auf. Heute lebt er in Bellach, nahe Solothurn. Er gehört zu jener Generation von Schweizer Schriftstellern, die direkt auf Frisch/Dürrenmatt folgte. Dies macht die Dinge für ihn einiges schwieriger. Er meistert sie.

Dr. Bättig referiert, zitiert, analysiert. Erzählt Anekdote um Anekdote. Seine Ausführungen reissen mit. Ich vergesse den Lukassaal, die Leute um mich. Tauche ein in die Tiefen von Leben und Werk des Peter Bichsel. Der Referent studierte Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte. In Fribourg und Zürich. Heute schreibt er in Feuilletons und Büchern. Über Literatur und Kunst. Der Kanton Schwyz zeichnete ihn mit dem Kulturpreis aus.

Jetzt tritt Reich-Ranicki auf. Wir schreiben das Jahr 1964. Er befindet sich in Interlaken und es regnet in Strömen. Über diese Frechheit ist der Literaturkritiker zu Tode beleidigt. Er hat Langeweile. In seinem Notizbuch findet sich eine Adresse. Interessanterweise jene von Bichsels Verleger, Otto F. Walter. Er ruft ihn an. Er habe Langeweile, sagt er. Walter solle ihm doch zum Essen Gemeinschaft leisten kommen. Walter kommt. Dabei hat er einen Vordruck von Bichsels Debut. Das Gespräch zwischen den Beiden ist wortwörtlich überliefert. Walter hat mitgeschrieben. Dr. Bättig trägt es jetzt vor. Seine Reich-Ranicki-Imitation ist stark. Zum Brüllen stark. Marcel spricht immer, dass einem zum Brüllen ist. Besonders wenn er sich ereifert. Eine Woche vor Publikation der Bichsel-Geschichten erscheint in der «Zeit» eine ganzseitige Kritik. Überschrift: «Ein neuer Autor ist geboren.» Der Verfasser: Marcel Reich-Ranicki. 1984 wird das 300 000. Exemplar des Buches verkauft.

Dr. Bättig erklärt, dass Bichsels gesamtes Leben eine Bichselgeschichte sei. Verworren, mit unerwarteten Wendungen. Frau Blum nimmt zwei Liter und 100 Gramm. Der Referent analysiert mit uns den Text «Der Milchmann». Einiges wird klar. Die Sätze. Wandtafelsätze, die wir alle aus der Primarschule kennen. Aneinandergereiht, in dunkelblauer Melancholie. Die Geschichten. Short-Stories von einer Welt, der das (Zwischen)Menschliche nach und nach abhandenkommt. «Es ist schade um den Menschen», sagt Mephistoles im Faust. «Es ist schade um den Menschen», zitiert Dr. Bättig Mephistoles. «Es ist schade um den Menschen», zitiere ich Dr. Bättig und Mephistoles.

Das Schlusswort ist wahr und schön und gut. Nun spricht es für sich.

«Bichsel beschreibt die existentialistische Trauer von uns allen. Jedoch ist er kein Nihilist. Er springt nicht in den Abgrund. Diese epochale Ausweglosigkeit liegt ihm fern. Er führt uns zwar vor einen Abgrund, aber sein Stil und seine Sprache bilden eine Brücke, die ihn überspannt. Während wir darüber schreiten, werfen wir einen Blick hinein. »

Nächsten Montag findet zur selben Zeit, am selben Ort der zweite Teil dieser Vortragsreihe statt. Alle Infos gibts hier.