Drei Geschichten, viele Perspektiven

UG (Luzerner Theater), 20.10.13. Im UG des Luzerner Theaters feierte am Sonntag «Keine Stücke über Krieg» seine Premiere. Die Aufführung besteht aus je einem kurzen, zeitgenössischen Stück aus Bosnien, dem Kosovo und Serbien. Von Meta- bis Erzähltheater, von schrill bis meditativ wird eine grosse Bandbreite dargeboten, und obwohl gelegentlich über das Ziel hinaus geschossen wird, hinterlässt der Abend Eindruck.

(Fotografie: Ingo Hoehn)

«After any war, theater becomes that «sexy thing», through which Europeans run to «heal the traumas» of the locals», schreibt Jeton Neziraj, einer der drei am Projekt beteiligten Dramaturgen, in seinem kurzen Beitrag zum Programmheft, und bringt damit das Thema des ersten Stückes des Abends - «Wenn das eine Vorstellung wäre ... Eine Mausefalle» von Almir Imširević - zu Papier: Das Theater, seine Aneignung von Geschichten, und die Auswirkungen, welche diese Aneignung auf die Geschichte hat. Es beginnt mit der showmasterhaften Figur des Regisseurs (Hans-Caspar Gattiker), der einen Schauspieler nach dem anderen auf die Bühne holt, sie mit einer Aufgabe füttert und zugleich quasi das kleine Einmaleins des Theaters erklärt. Dann richtet sich der Fokus auf einen der Schauspieler (Clemens Maria Riegler). Er wird vom «Regisseur» nach Erinnerungen und Geschichten gefragt und in seinen Antworten immer wieder von den anderen Schauspielern unterbrochen, welche die vorkommenden Figuren – etwa den Grossvater – verstörend eindimensional darstellen, sie lächerlich machen und ihrer Glaubwürdigkeit berauben. Nach und nach rückt eine Geschichte ins Zentrum, die aus immer anderen Perspektiven und anderer Figurensprache erzählt wird. In Kurzform: Ein junger Mann in einem weissen T-Shirt wird in der Tram Nr. 3 in Sarajevo von einer Kugel getroffen. Blut spritzt auf eine Frau, die in Ohnmacht fällt. Kurze Zeit später sagt eine Bekannte zu der Frau, dass sie auch 14 mal einen Orgasmus haben könne. Nie kommt die Erzählung ohne diesen abschliessenden Mastdarm aus und nicht selten steht er im Zentrum. Über weite Strecken funktioniert «Wenn das eine Vorstellung wäre ...» sehr gut in seiner Kritik an der Aneignung und Entpersonalisierung von Geschichten durch das Schauspiel, auch an der Gier nach dem Skandälchen. Leider droht das Stück im letzten Drittel zu überladen, als einem die Bedeutung des bisher gezeigten geradezu aufgezwungen wird und die Figur des Regisseurs humanisiert werden soll. Beides würde im Kontext des Stückes viel Sinn machen, bewirkt aber durch die Kürze des Werks geradezu seine Implosion. In seiner Gesamtheit vermittelt das Stück aber interessante Ansätze und beeinflusst durch seine Thematik auch den restlichen Abend.

Ein Preis für ein Leben Das zweite Stück des Abends, «Yue Madeleine Yue» von Jeton Neziraj spielt in Pristina. Ein Mädchen aus einer Roma-Familie fällt in eine nicht abgesperrte Grube und fällt ins Koma. Während die Mutter (Wiebke Kayser) darauf fatalistisch bis stoisch reagiert, will der Vater, dass jemand zur Verantwortung gezogen wird. Dabei begegnet er käuflichen Ärzten (Riegler), heuchlerischen und grössenwahnsinnigen Bauunternehmern, desinteressierten Beamten (u.a. als die beiden letzteren: Christian Baus). Immer wird für Versagen und Untätigkeit mehr Respekt eingefordert und überall schlägt ihm die Verachtung den Roma gegenüber entgegen. Dazwischen wackelige Live-Übertragungen eines Fernsehsenders, mit einer immer hochinvestigativ dreinschauenden Reporterin (Daniela Britt), deren Interesse dann jeweils aber auch nur bis zur Erwähnung des vom Sender ausgeschriebenen Wettbewerbs «Miss Grube» reicht, wo das Foto der schönsten Grube der Stadt mit vier Autoreifen prämiert wird. Man ahnt worauf das hinausläuft. Dass einen das Stück trotz seiner grosskellig ausgegebenen Rundumschläge und oft karikaturenhaften Figuren mit einem Kloss im Hals entlässt, liegt an den fein gespielten, leiseren Passagen und der permanenten physischen Anwesenheit des Mädchens (Iana Huber), deren Schicksal lange offen bleibt.

«Es wird sich entzünden» Umzugskarton, zu Anfang arrangiert in geraden Linien. Es erinnert an das Holocaust-Mahnmal. Auf der Bühne ein Mann (Gattiker) und eine Frau (Britt). In wechselnder Erzählung wird die Szenerie beschrieben, in der sich das zentrale Ereignis zutrug: Eine Shopping-Mall, an den Tischen eines Cafés. Es herrscht Hitze, die Gemüter sind erregt. Der Mann übernimmt die Erzählung. Ein kleiner Junge mit einer blauen Mütze saust herum. Er bemerkt die Mutter. Eine Prügelei wegen nichts beginnt, greift um sich. Auch der Mann stürzt sich hinein. Er wird niedergeworfen, sieht am Boden eine Waffe. Beginnt zu schiessen. Erschiesst mehrere Leute. Erschiesst den Jungen. Die Frau, die Mutter des Jungen, erzählt ihre Perspektive. Sie war auf der Toilette als es begann. Zerfleischt sich im was-wäre-wenn. Dazwischen Gespräche zwischen dem Mann und der Frau. Sie will wissen, wieso er es getan hat. Er redet über alles Mögliche, nur darüber scheint er nichts sagen zu können. Es wird klar, dass ihn die Frau immer wieder besucht, auch jeden Tag zur Schule fährt, wie um das Kind abzuholen. Und es geht immer weiter und immer tiefer. «Gesicht aus Glas» von Marija Karaklajić schliesst den Bogen des Abends mit dem Thema der individuellen Geschichte. Durch die überwiegende Kälte der Inszenierung entwickelt sich ein gewisser Sog, der die Suche nach einem Sinn und das nicht-loslassen-können der Mutter spürbar macht, aber leider gelegentlich durch eine eher unmotivierte Abzweigung durchbrochen wird. Etwa durch das obszöne Gieren des Mannes nach der Frau. Und als der Mann am Ende noch in die Rolle des Sohnes (oder eher: eines Sohnes im Allgemeinen) schlüpft, ist das irgendwie wieder zu viel gewollt auf zu kleinem Raum. Trotzdem: Der Abend bietet durchs Band gute Schauspielleistungen, abwechslungsreiche Inszenierungen und viel Denkstoff zum mit nach Hause nehmen. Es sei empfohlen.

«Keine Stücke über Krieg», UG Luzerner Theater, bis am 20.11.13